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Kinder, allet wird jut

Kaum zu glauben: Der deutsche Wahlkampf wird noch feiger geführt als der unsere

“Ach, Sie sind aus Österreich? Toll ist das hier, nicht? Andere Länder bewundern uns, weil es uns wirtschaftlich so gut geht“, sagt Michael Wieczorek, 59, Hausmeister. Er trägt Jogginganzug und Baseballkapperl. Hier, in einer Einkaufsstraße in Berlin-Charlottenburg, findet gerade Wahlkampf statt, wenige Schritte entfernt verteilt die SPD Flyer und Kugelschreiber. Wieczorek weiß aber schon, wen er wählen wird. Der Mann senkt die Stimme, damit ihn die roten Wahlkampfhelfer nicht hören. Dann sagt er leise: “Ne, nicht die SPD. Ich wähle die CDU. Frau Merkel ist doch hervorragend.“

Der Mann Ende 50 ist exemplarisch für viele deutsche Wähler: Er fühlt sich zufrieden, ist froh, dass er in Deutschland und nicht irgendwo anders lebt. Dabei ist der Mann im Jogginganzug wahrhaft kein Modernisierungsgewinner: Der Hausmeister hat einen sogenannten Minijob, das sind maximal 450 Euro im Monat abschlagsfrei. Ob man davon überhaupt leben kann? “Hätte ich eine Familie, wäre es sicher zu wenig“, sagt der Berliner, “aber wissen Sie: Man muss auch ein bisschen bescheiden sein.“

Bloß nicht jammern, uns geht es doch gut, und vor allem geht es den anderen in Europa vieler schlechter. Mit dieser Wahlkampfstrategie will die CDU am Wahltag, dem 22. September, das Volk hinter der Kanzlerin vereinen. Dass die Unionspartei auf Platz eins landet, bezweifelt ohnehin keiner mehr, unklar ist nur: Wie weit abgeschlagen liegen die Sozialdemokraten und welche Koalition ist dann noch möglich? Das Wahrscheinlichste ist derzeit die große Koalition. Das scheint den Bürgern auch die liebste Variante zu sein. Die wünschen sich allen Umfragen zufolge möglichst wenig Veränderung, und vor allem wünschen sie sich ihre “Angie“.

Merkel auf riesigen Plakaten, Merkel auf gestrickten Pullis, Merkels Jugend als Buch. Wer mitten im Wahlkampf die Bundeshauptstadt besucht, könnte glauben, Angela Merkel sei keine Politikerin, sondern ein Popstar. Gleich neben dem Berliner Hauptbahnhof hängt derzeit ein riesiges, insgesamt 2400 Quadratmeter füllendes Wahlplakat mit nichts anderem als Merkels Händen. Sie macht auf dem Bild diese berühmte Geste, bei der die Kanzlerin ihre Fingerspitzen aneinanderdrückt, die sogenannte Raute der Macht.

Über die Analyse einzelner Handbewegungen kommt der deutsche Wahlkampf anscheinend nicht hinaus
In den letzten Tagen wird über eine weitere Geste diskutiert: Peer Steinbrück zeigt auf dem Cover des SZ Magazins den Mittelfinger und verdeutlicht damit, was er von der Kritik an seiner Person hält. Über die Analyse einzelner Handbewegungen kommt der deutsche Wahlkampf anscheinend nicht hinaus. Auch über die wichtige Frage, welche Rolle die Bundesrepublik in der Europäischen Union spielen soll, wird nicht geredet. Da fürchten die Parteien offensichtlich zu sehr den Volkszorn.

Diesmal haben die Deutschen einen ganz besonders inhaltsleereren Wahlkampf. Vielleicht haben die Bundesbürger auch nichts anderes verdient. Diese These vertritt zumindest Matthias Geis, politischer Korrespondent der Zeit in Berlin.

Warum die SPD mit ihrem klassisch linken Wahlkampf und ihrer Kritik an den sozialen Lücken nicht durchkommt? Erstens setzt sich Angela Merkel auf viele Themen drauf und übernimmt Forderungen der Opposition, noch bevor irgendeine Debatte entstehen kann. Zweitens passt das zur aktuellen Stimmung. “Die SPD spricht sicher Probleme an, die einen Teil der Gesellschaft hart treffen“, meint der Journalist, “das Problem dieser Strategie ist nur: Der Großteil der Bevölkerung sieht es nicht so. Im Land herrscht ein betäubend wohliges Gefühl.“

Der Wahlkampf der CDU hat fast schon etwas rührend Altmodisches. Im schicken Berliner Stadtteil Steglitz haben die CDU-Frauen ihren rosa Regenschirm aufgespannt. Charmante ältere Damen mit auftoupierten Frisuren verteilen Dinge, die man gut gebrauchen kann, etwa Taschentücher und Nähzeug. Darauf steht dann: “Wir halten zusammen.“

Die Wirtschaftsdaten sagen etwas anderes: Laut Armutsbericht bewegt sich die deutsche Gesellschaft auseinander. Es stimmt schon, dass das Land – ebenso wie Österreich – gut durch die Krise kam. Heuer liegt die Wirtschaftsleistung, also das BIP, in Deutschland (wie in Österreich) etwa vier Prozent über dem Stand von 2007, dem letzten Jahr vor der Krise. Tolle Zahlen, aber sie verbergen: Der deutsche Erfolg baut auf der starken Exportwirtschaft auf. Bei den Löhnen herrscht eine Ungleichheit: Nach Litauen hat Deutschland den größten Niedriglohnsektor, jeder Vierte arbeitet in einem Billigjob, berechnete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.

Diese Armut ist sichtbar, wenn man vom bürgerlichen Steglitz ein paar S-Bahn-Stationen nach Wedding fährt, einem ehemaligem Arbeiterbezirk. Eine betagte Frau fischt eine Pfandflasche aus dem Mistkübel. Sie will nicht über die Politik reden. Ein älterer Mann mit Jeansjacke und Ohrring führt den Hund Gassi. Uwe Liebschwager erzählt, dass er seit 45 Jahren arbeitet, bald 61 ist und mit 63 in Rente gehen will, so wie das die SPD im Wahlprogramm verspricht. “Ich will auch irgendwann eine Tasse Kaffee in Ruhe trinken“, meint der Arbeiter. Sonst findet er die Kanzlerin ganz sympathisch, “die ist jut, die macht ihr Ding“.

Sogar viele SPD-Wähler mögen die Regierungschefin, die für “Schutz, Konstanz und Zeitlosigkeit“ steht. Das besagt eine umfassende neue Studie des Rheingold-Instituts in Köln. Demnach sind die Deutschen nicht nur stolz auf ihr Land – sie wollen vor allem nicht, dass es schlechter wird. “Der Glaube an eine bessere Zukunft, für die die Parteien streiten können, ist der diffusen Sehnsucht nach einer permanenten Gegenwart gewichen“, heißt es in der Studie, die ein tristes Bild zeichnet: Demnach will die Bevölkerung deswegen nicht über Inhalte reden, weil sie den großen Parteien gar keine Lösungen mehr zutraut. Merkel scheint in dieser Rolle als Hüterin des Status quo vollends aufzugehen.

 

 

Dieser Artikel erschien im Falter 38/13. Das Foto machte ich am Berliner Hauptbahnhof. Die Reportage fand im Rahmen von Eurotours 2013 statt, einem Projekt der Europapartnerschaft, finanziert von der EU. Infos: facebook.com/eurotourseu

Categories: Politik
Ingrid Brodnig:
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