X

Bologna? Arrabiata!

Mit Protesten und Schuldeingeständnissen begann die zweite Halbzeit des Bologna-Prozesses. Noch gibt es Hoffnung für das große europäische Hochschulprojekt


Demonstrierende im Clownkostüm, Polizisten wie Schildkröten im Panzer und eine Hofburg, die vor wütenden Studierenden abgeschirmt werden muss. So hatte sich das Zehnjahrjubiläum von Bologna wohl niemand vorgestellt, als die europäischen Wissenschaftsminister 1999 den einheitlichen europäischen Hochschulraum beschlossen. Von akademischem Austausch über die Grenzen hinweg, von Studierenden, die sich ohne Hürden in Nachbarstaaten weiterbilden, und von Europa als internationaler Wissensregion war damals die Rede. Bald kam die Idee hinzu, dass möglichst alle Jugendlichen gleiche Bildungschancen verdienen – auch jene, deren Eltern nicht studiert haben oder Migranten sind.

Nun zogen 47 europäische Wissenschaftsminister in Wien Bilanz, das Resümee ist ernüchternd. Bologna wurde für viele Studierende, speziell in Österreich, zum Synonym für alle Verfehlungen an den Unis: Verschulung, Kranksparen, Überlastung, fehlende Wahlfreiheit (siehe auch Falter 10/10). Streckenweise liest sich die sogenannte Budapest-Vienna-Declaration, welche die Minister vergangenen Freitag verabschiedeten, wie eine Bußschrift: „Die jüngsten Proteste in manchen Ländern, die teils gegen Maßnahmen gerichtet wurden, die nichts mit dem Bologna-Prozess zu tun haben, erinnern uns, dass die Bologna-Ziele und -Reformen noch nicht richtig umgesetzt und erklärt wurden. Wir gestehen das ein und werden auf die kritischen Stimmen unter Studierenden und Personal hören.“

In zehn Jahren nahm der europäische Hochschulraum nur grobe Konturen an. Zwar wurden die Unis von Portugal bis Polen verbachelorisiert und umgebaut, der Geist von Bologna kam in der Alma Mater aber nur selten an. „Wenn man den Prozess nun einschlafen lässt, haben wir schlechtere Hochschulsysteme als zuvor“, urteilt selbst Andrea Blättler von der Europäischen Studierendenunion. Doch wie lässt sich der Prozess in den nächsten zehn Jahren in die richtige Richtung lenken?

Bologna braucht Konsequenz, es muss Missstände offen benennen. Diese Einschätzung teilen einige Hochschulexperten. Viele Staaten setzten bisher nur jene Punkte um, die ihnen bequem waren. Gleichzeitig sparten Regierungen mit Verweis auf Bologna an den Hochschulen, die Unis schränkten die Freiheit der Studierenden ein – obwohl die offiziellen Dokumente das nirgendwo vorsehen. „Ich hoffe, dass die Ministertreffen immer mehr nachprüfen, was in den einzelnen Staaten nicht passiert ist oder schlecht passiert ist. Und dass diesen Staaten gesagt wird: ‚Hey, so geht das nicht‘“, meint etwa der Franzose Guy Haug, einer der Mitgestalter des Bologna-Prozesses.

Für säumige Staaten wäre eine Politik des „Naming, Blaming and Shaming“ ein moralisches Druckmittel. Schon jetzt werden alle zwei Jahre „Stocktaking Reports“ verfasst, in der Theorie beschreiben sie den Fortschritt der Reform, in der Praxis sagen sie aber kaum etwas über die Qualität der Umsetzung aus. „Die Stocktaking Reports müssen mehr Zähne zeigen“, meint Studierendenverteterin Blättler. Sie kann sich vorstellen, dass bei jedem einzelnen Punkt aufgezeigt wird, welche Länder besonders gut und welche besonders schlecht agieren. Dabei könnte herauskommen, dass Österreich einige Aufgaben ignoriert hat – etwa das studierendenzentrierte Lernen. Während Bologna dezidiert eine Uni wünscht, die Rücksicht auf ihre Studenten und Studentinnen nimmt und ihnen entgegenkommt, war hierzulande der gegenteilige Trend beobachtbar: Die Studienbedingungen wurde in den letzten Jahren schlechter, Studienpläne überfrachtet, die Wahlfreiheit eingeschränkt.

Die Deklaration aus Budapest und Wien ist ein gutes Signal. Auch auf europäischer Ebene lässt sich der Frust nicht mehr leugnen. In Österreich präsentierte Wissenschaftsministerin Beatrix Karl (ÖVP) nun ein 10-Punkte-Programm, um die Bologna-Umsetzung nachzubessern. Eine Task Force, Best-Practice-Beispiele und eine Beschwerdestelle für Studenten sind beispielsweise angedacht. „Grundsätzlich geht das in die richtige Richtung“, sagt ÖH-Vorsitzende Sigrid Maurer vorsichtig. Bevor sie zu jubeln beginnt, wartet sie lieber noch auf die konkrete Umsetzung.

Bologna ist viel stärker auf die Studenten und Professoren angewiesen, als das der Politik anfangs bewusst war. Die Reform kränkelte zum Teil am fehlenden Willen der Universitäten, sie fühlten sich von oben herab behandelt und ärgerten sich über steife Vorgaben. „Der Bachelor ist top-down eingeführt worden“, sagt etwa Georg Winckler, Rektor der Uni Wien. In seinen Augen sollten die Hochschulen mehr Spielraum bekommen, ob sie im dreijährigen Bakkalaureat stärker auf Praxisnähe und Beschäftigungsfähigkeit setzen oder auf einen breiteren Bildungsbegriff.

Die Minister sprechen nun immer mehr von Universitäten als Partnern. „Wir verpflichten uns zu einer effektiveren Einbindung des Hochschulpersonals und der Studierenden“, heißt es in der Deklaration. Hoffentlich sind das nicht nur leere Worte, denn die Geduld mit Bologna ist enden wollend. Und es ist unrealistisch, dass der Prozess im Jahr 2020 noch einmal verlängert wird, bloß weil manche Länder nicht mitspielen.

Bologna bekam eine zweite Chance. Zehn weitere Jahre, um einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum aufzubauen, in dem Lehre und Forschung nicht an der Landesgrenze Halt machen und sich die Unis wirklich darum sorgen, wie es ihren Studierenden geht. Wenn das gelingt, müssen die Minister bei der nächsten Zehnjahresfeier nicht vor den Studenten beschützt werden.


Dieser Artikel ist im Falter 11/10 erschienen. Foto: Heribert Corn

View Comments

  • Liebe Ingrid Brodnig!
    So ein Glück, dass ich wieder am Radio gepickt bin https://oe1.orf.at/artikel/437477

    Diesmal wollte ich Ihr Buch "Hass im Netz" zuerst lesen, bevor ich mich öffentlich für Sie freue. Was mich beim Interview gleich hellhörig gemacht hat, war der starke Einstieg: Das persönliche Gegenüber, der Augenkontakt erleichtern einen respektvollen Austausch! Und im Buch habe ich super brauchbare Tipps bekommen, von der Weiterbildung in der Online-Welt ganz abgesehen.

    Im Kepler Salon in Linz werden Sie sicher viele Freunde gewinnen http://www.kepler-salon.at/de/Veranstaltungen/Hass-im-Netz.-Was-wir-gegen-Hetze-Mobbing-und-Luegen-tun-koennen

    Ich werde inzwischen Ihr Buch lebhaft verschenken und weiterempfehlen.
    Herzlich, Heidemarie

    PS: hab' übrigens bei meinem Buchhändler auch ein witziges Vorlesebuch mit einem sympathischen Troll eingepackt http://www.lunamag.de/2016/03/07/neue-kinderbuecher/#!

  • Auch "Profil" entlohnt seine freien Mitarbeiter sehr schlecht!

  • Und WAS, wenn UNSER SYSTHEM durch die "Belohnungen" der Lügner LÜGNER produziert ?
    Jedes Kindergartenkind
    wird es Ihnen sagen:
    "Das Fernseh'n lügt ".

  • ich denke mir, da fehlt was, dieser Artikel behandelt meiner Meinung nach nur oberflächlich eine Seite, also die Lügen. was aber überhaupt nicht angesprochen wird ist die Wahrheit, die immer die Basis bildet und lediglich weitergestrickt, übertrieben usw ... wird. der Misstrauen, die Unzufriedenheit etc. ist extrem groß in unseren "westlichen" Gesellschaften, diese kommt nicht von Ungefähr und ist auch nicht unbegründet. wer sich diesem einfach nur über die Lügengeschichten nähert, wird dem Thema nicht gerecht. die Wahrheit ist nämlich furchterregend genug, wie manche einbilden ihre eigenen Interessen der Welt aufzubomben. die Lügengeschichten und Propaganda nur irgendwelchen Untergrundseiten zuzuordnen ist mMn schon ein großer Fehler!

  • Sehr geehrte Frau Brodnig,

    vielen Dank für Ihren Vortrag bei uns am Gymnasium. Ihr Vortrag ist Teil der Medienkompetenzentwicklung bei uns an der Schule und unterstützt unsere Schülerinnen und Schüler kritisch mit Medien umzugehen.

    Ich habe Ihnen eine E-Mail geschrieben und hoffe sie hat sie erreicht.

    Viele Grüße
    Uwe Kranz

  • 1 20 21 22 23 24 38