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Er kam, sah und sägte

Foto: Heribert Corn

Veit Dengler will die NZZ wachrütteln und Österreichs Medien herausfordern – dabei eckt er an.

Veit Dengler fiel früh auf. Als er 18 war, mischte er sich in einem Wiener Fitnessstudio in eine fremde Diskussion ein. Ein paar Amerikaner und Österreicher diskutierten die politischen Zustände in der Sowjetunion, der junge Dengler hatte eine Meinung und äußerte sie ungefragt. “Mich hat dieser junge Mann sehr beeindruckt“, erinnert sich Ken Banta an den gutaussehenden Wirtschaftsstudenten. Banta leitete damals das Osteuropa-Büro des Time Magazine in Wien und bot Dengler kurzerhand einen Job als Reporter an. Mit 18 Jahren begann Veit Dengler somit, für Time zu arbeiten. Vier Jahre lang recherchierte er für eine der weltweit renommiertesten Publikationen – und alles nur, weil er dazwischengeredet hatte.

Heute, fast 30 Jahre später, arbeitet Dengler erneut in der Medienbranche. Heute vergibt er die Jobs: Der Österreicher, 45, leitet seit kurzem die Schweizer NZZ-Mediengruppe. Als CEO soll er die traditionsreiche, aber auch etwas altmodische Neue Zürcher Zeitung wachrütteln und ein funktionierendes Geschäftsmodell für die digitale Zukunft entwickeln.

Kürzlich wurde bekannt: Dengler will in einem ersten Expansionsschritt nach Österreich gehen und einen Ableger der NZZ starten. Eine enorme Herausforderung in Zeiten, in denen Printinserate schwinden und Onlinewerbung zu billig ist, um guten Journalismus zu bezahlen. Was ist Denglers Rezept – hat er überhaupt eines?

Hierzulande kennt man Veit Dengler bisher nicht als Zeitungsvisionär, sondern als Manager und liberalen Vordenker. Mit Matthias Strolz gründete er die Neos. Wäre er nicht zum Schweizer Qualitätsblatt gegangen, hätte er für den Nationalrat kandidiert.

Auch deswegen holte ihn der Verwaltungsrat der NZZ: Man suchte einen Außenseiter, der die etablierten Strukturen hinterfragt. Nach seinem vierjährigen Intermezzo beim Time Magazine verließ Dengler den Journalismus und ging ins Management. Als Unternehmensberater von McKinsey betreute er die Musikbranche, deren Geschäftsmodell durch die Digitalisierung vernichtet wurde. Dann verkaufte er Computer bei Dell, stieg in der Geschäftssparte für Privatkunden und Klein- bis Mittelbetriebe bis zum General Manager von 32 Staaten auf. Aus der Vogelperspektive blickt er auf die Zeitungslandschaft und kritisiert – wie viele andere auch – die Gratiskultur. “Wir haben vor 20 Jahren begonnen, unser Produkt zu verschenken. Diese Rechnung geht nicht mehr auf.“

Neue Einnahmequellen zu finden ist seine Hauptaufgabe. Die NZZ hatte schon vor Veit Dengler eine Paywall, nun wird diese weiterentwickelt, sie soll dem Kunden maßgeschneiderte Produkte anbieten. “Warum muss ich unbedingt die ganze Zeitung abonnieren? Wenn ich Musiker bin, interessiert mich womöglich nur ein Feuilleton-Abo“, sagt Dengler bei einem kurzen Besuch in Wien, wo er mittags zu Vertretern der Werbebranche spricht, nachmittags an dem NZZ-Ableger für Österreich feilt und zwischendurch den Falter trifft.

Er will den Journalismus mit seinen Erfahrungen als IT-Manager aufpeppen. Etwa sollen sogenannte “A/B-Testings“ die Onlineartikel der NZZ ansprechender machen. Die NZZ hat dafür eine Software gekauft, mit der Onlinetexte zwei verschiedene Titelversionen erhalten, beide Überschriften werden nach Erscheinen eine gewisse Zeit lang ausgetestet. Jene Überschrift, die öfter angeklickt wird, ist danach die fixe Headline.

Eine grundlegende Vision für den Journalismus hat er noch nicht formuliert, wie manch ein Schweizer Journalist kritisiert
Solche Tools und Tricks kündigt er bisher an, eine grundlegende Vision für den Journalismus hat er noch nicht formuliert, wie auch manch ein Schweizer Journalist off the record kritisiert. “Das Publizistische überlasse ich unserem Chefredaktor Markus Spillmann“, sagt der CEO. Aber eines ist klar: Das Medienverständnis des Veit Dengler ist ein marktgetriebenes.

Er lehnt es ab, dass guter Journalismus in Zukunft von nicht gewinnorientierten Stiftungen finanziert wird – ein Weg, den der Guardian eingeschlagen hat. “Die beste Voraussetzung für die Unabhängigkeit ist der wirtschaftliche Erfolg“, sagte er zum Konkurrenzmedium Tagesanzeiger.

Mit dieser Haltung passt er gut zur NZZ, die sich selbst als liberale, auch wirtschaftsliberale Zeitung definiert, in den Statuten ist die “freisinnig-demokratische Grundhaltung“ festgeschrieben. Wer Aktien der Mediengruppe besitzen will, muss sogar Parteimitglied der liberalen Schweizer FDP sein oder sich zumindest zur liberalen Grundhaltung bekennen. Mitglieder anderer Parteien dürfen keine Beteiligungen besitzen.

Deswegen ist Denglers prononcierte Parteivergangenheit kein Problem. Er war derjenige, der Matthias Strolz antrieb, endlich gemeinsam eine neue Partei in Österreich zu gründen. Er war, so hört man, auch immer der Zuversichtlichste, dass der Einzug ins Parlament gelänge. Er ist ein überzeugter Liberaler, wie seine Biografie zeigt.

Dengler hatte zwei Kindheiten: Er lebte bis zum Alter von zehn Jahren in der Oststeiermark, dann zogen er und seine Mutter zum leiblichen Vater, ein Diplomat und ÖVPler, der in der Botschaft in Budapest arbeitete. Diese Phase erklärt vielleicht auch, warum er nie damit liebäugelte, ein Linker zu werden: “Mit zehn Jahren kam ich nach Budapest und habe die Tristesse und Menschenverachtung des Kommunismus erlebt – den Polizisten, der vor dem Haustor stand und aufpasste; das Telefon, das abgehört wurde.“ Die ungarischen Behörden strengten sich nicht einmal an, ihre Überwachung zu verbergen: Wenn man wen anrief, knackste die Leitung. Briefe wurden geöffnet und schludrig wieder zugeklebt. Dengler setzt also lieber auf die Mündigkeit des Einzelnen als auf Väterchen Staat. Er ist ein Gesellschafts- und Wirtschaftsliberaler, der sich sowohl niedrigere Steuern für Spitzenverdiener als auch das Adoptionsrecht für Homosexuelle vorstellen kann.

Er hat internationalen Weitblick, was vielen in der heimischen Politik fehlt. Der gebürtige Grazer studierte in Wien und in Harvard, lernte dort seine Frau kennen, eine Griechin, hat vier Kinder. Zu Hause spricht man englisch. Aber eigentlich will er gar nicht über seine Familie reden. “Ich bin ja kein amerikanischer Senator im Wahlkampf, der dauernd die Familie herzeigen muss.“ Also gut – zurück zum Geschäft, dort erntet Dengler derzeit Kritik.

Während er in Österreich fast schon bejubelt wird, sind die Schweizer Kollegen deutlich skeptischer
Während er in Österreich fast schon bejubelt wird, sind die Schweizer Kollegen deutlich skeptischer. In Branchenblättern wird ihm “eine ruppige Tonlage“ vorgeworfen. Von mangelndem Vertrauen in die eigene Mannschaft ist die Rede und von schlechter Stimmung im sogenannten “Kader“ – dem Führungspersonal der NZZ. So soll Dengler dem digitalen Team gezeigt haben, dass er dessen Arbeit nicht gut genug findet.

Es ist nicht leicht, berechtigte Kritik von Untergriffen der Konkurrenz zu unterscheiden. Dengler wurde etwa vorgeworfen, er habe seinen Job bei Time schöner dargestellt, als er war. Sein früherer Chef, Ken Banta, spricht aber in höchsten Tönen von ihm: “Stimmt schon, er hatte keine Vollzeitstelle, aber er hat tolle Arbeit geleistet.“

Vielleicht liegt das Problem tiefer: Vielen Schweizer Journalisten behagt nicht, dass das NZZ-Medienhaus von zwei Branchenfremden geleitet wird – manch einer spricht sogar von “Amateuren“.

Nicht nur Dengler kommt von außen, der Verwaltungsratspräsident Etienne Jornod stammt aus dem Apothekergeschäft. Dengler baute im Eiltempo das Führungsteam um, setzte drei frühere Berater von McKinsey in wichtigen Positionen ein. Prompt sprach der Tagesanzeiger von einer “McKinsey-Connection“.

Auch in Österreich sorgt seine Personalauswahl für Diskussionen. Michael Fleischhacker soll das journalistische Konzept des NZZ-Ablegers erstellen, Rudi Fußi das Geschäftsmodell. Fleischhacker war früher Chefredakteur der Presse und ist für seine streitlustigen Texte bekannt, zuletzt schrieb er das Buch “Die Zeitung. Ein Nachruf“. Fußi hingegen ist Kommunikationsberater und somit auch ein Branchenfremder.

Die Furche schrieb über die beiden: “Der eine brachte es über die Kleine Zeitung sowie den Standard zum Chefredakteur der Presse und ist auch Autor der 176-seitigen ‚Politikerbeschimpfung‘. Der andere irrlichterte als Parteimitglied von der Jungen ÖVP über die liberalen FPÖ-Renegaten Die Demokraten bis zur SPÖ und beriet dann das Team Stronach. Ausgerechnet diese beiden schillernden Figuren sollen für die Neue Zürcher Zeitung publizistische Produkte für Österreich entwickeln.“

Er glaubt, dass der Medienapparat Leute von außen braucht
Genau das entspricht dem System Veit Dengler: Er glaubt, dass der Medienapparat Leute von außen braucht. “Rudi Fußi hat viel Unternehmergeist und Kreativität, das tut dem Projekt gut.“ Wie das “Projekt“ genau aussehen wird, will er nicht verraten – auch nicht, ob es nur online oder auch in Print erscheinen wird und in welchem zeitlichen Rhythmus. Fix ist nur: Die Onlineausgabe ist sicherlich auch zu bezahlen.

Für die NZZ ist Österreich ein Testmarkt, wie man in Deutschland reüssieren könnte. Eine Expansion ist für das Traditionsblatt sinnvoll: In der Schweiz sinken die Leserzahlen langsam. Die potenzielle Auflage ist bei nur fünf Millionen deutschsprachigen Schweizern eingeschränkt. Vielleicht lässt sich der gute Name der NZZ also im Ausland besser verkaufen.

Zehn Millionen Franken, umgerechnet acht Millionen Euro, investiert die NZZ in den kommenden zwei Jahren in journalistische Innovation – von Zürich bis Wien. Ob sich diese Investition auszahlt, ob Dengler seine Kritiker eines Besseren belehren kann, wird sich zeigen. Aus österreichischer Sicht eine interessante Situation: Wir können schauen, wie ein ausländisches Medium hierzulande versucht, Fuß zu fassen und Qualitätsjournalismus in digitalen Zeiten zu liefern. Und wenn das doch nicht klappt, wer darf’s bezahlen? Die Schweizer.

 

Die NZZ in Zahlen:

1780 wurde das Blatt gegründet (siehe NZZ-Archiv)
126.795 Stück, so hoch ist die Auflage der Zeitung
600 Vollzeitstellen gibt es bei der NZZ, die gesamte Mediengruppe hat mehr als 1500 Vollzeitstellen, erklärte die Pressestelle
482 Millionen Franken Umsatz machte die Mediengruppe 2013 und schreibt schwarze Zahlen. Die Erträge sanken aber im Vergleich zum Vorjahr

Dieser Artikel erschien im Falter 14/14. Foto: Heribert Corn

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  • Danke für den tollen Artikel!

    Hab nur eine kleine Anmerkungen zu Punkt 2:
    "Man hätte das laut Fussi eher als Frage einbringen können, zum Beispiel. ob es fair sei, dass nur große Söhne in der Bundeshymne vorkommen. "

    Diese Diskussion hatten wir afaik bereits. Sie mündete in der Änderung des Textes der Hymne, wirksam ab 1.1.2012.

  • Shitstorms werden in logischer Folge befördert wenn nicht ausgelöst dadurch, dass es auf facebook keinen Dislike-Button gibt. Wenn einem etwas nicht passt, muss man was schreiben. Und diese Mühe machen sich eher jene, die extrem dagegen sind - mit entsprechender Wortwahl. Jene, die dafür sind, klicken auf Like, und das war's.

    Andere fühlen sich durch die schiere Sichtbarkeit dieser shitstormesken Kommentare bestärkt und lassen ihren Frust (der gern auch aus der allgemeinen Lebenssituation erwächst) ebenfalls los. Das schaukelt sich dann weiter hoch (bzw. "hinunter"). Der Teufel sch...t halt immer auf den größten Haufen.

    Zudem haben wir im vorliegenden Fall nicht nur das Thema Gleichberechtigung sondern auch das prinzipielle Match Politiker vs. (populärer) Heimatmusiker. Heinisch-Hosek hätte wahrscheinlich irgendwas gegen Gabalier posten können. Hätte sie auch angeeckt und Widerspruch hervorgerufen.

    Wäre auch interessant, wie die Struktur der Negativ-Poster aussieht. Wieviele Männer, Einkommenslevel, Geschiedene, Alter etc. Und ob diese Struktur repräsentativ für Österreich ist (oder auch jenen, die bei einer Volksabstimmung für die alte Hymne stimmen würden). 14.000 oder mittlerweile mehr sind für eine eingehendere statistisch Betrachtung schon nicht wenig.

    Andererseits: 6 Millionen der Internetbevölkerung haben nicht geshitstormt (nur davon gelesen in der großen medialen Berichterstattung).

    • Interessant, dass Sie auf den Dislike-Button zu sprechen kommen. Ich habe ja zum "Gefällt mir nicht"-Knopf, den sich viele wünschen, eine andere Meinung: Facebook lässt den bewusst weg, weil er den Trollen nützen würden, die nur Zwietracht säen wollen. Die würden es dann als Auszeichnung sehen, möglichst viele Dislikes zu ernten und selbst permanent Dislikes zu verteilen. Aber wie Sie richtig sagen, eines vergisst man oft bei solchen Debatten: Die schweigende Mehrheit hat online nicht geschimpft und sich nicht am Shitstorm beteiligt. Nur das ist leider dann oft (auch für die Betroffenen) dann nicht sichtbar.

      • thx, ich freue mich über Ihre Replik. Ja, das kann prinzipiell in beide Richtungen gehen. Auf einer ganz grundsätzlichen Ebene könnte man mit der Frage spielen, ob "der Mensch" (heutzutage, in Social Media) eher tätig wird, wenn - all other things being equal - er zur Startaussage pro eingestellt ist oder contra (pathetischer ausgedrückt sie aufbauen oder zerstören, verteidigen oder angreifen will). Sicher hängt es auch davon ab, wie die Startaussage gepolt ist - um bei dem manichäischen Weltbild zu bleiben ;) ...ich weiß... sehr sehr pauschal und abstrakt... ;)

        Das genaue, konkrete Gegenexperiment und damit den Vergleich, wie es ausgesehen hätte, wenn Gabalier Heinisch-Hosek in derselben Tonart und Stärke und zuerst angegriffen hätte, ist leider nicht möglich. Hätte es dann die bösen Kommentare eher zugunsten der neuen Hymne gegeben bzw. gegen den Aggressor Gabalier?

        Mit einem Dislike-Button gäbe es Waffengleichheit zwischen den beiden Typen. Dann hätten auch die negativ Eingestellten die Convenience-Option des Button Drückens (und manche von ihnen würden sich den bösartigen Kommentar vielleicht sparen).

        Ich meine, man sollte auch noch deutlicher zwischen dem klassischen Troll und Shitstorm-Teilnehmern unterscheiden, wenn man über Manieren im Internet spricht. Klassische Trolle sind lieber unbekannt - in meiner von Freunden und Gutgesinnten bevölkerten Timeline gibt es kein Trollen (bzw. zeigt mir facebook keins). Shitstorm-kompatible Bemerkungen seh' ich von bekannten Personen schon.

  • Danke für diesen Beitrag! Da ich mir vorgenommen habe, eine Recherche zum Thema Sexismus und Internet zu machen, würde mich interessieren, woher die Information kommt, dass es nur eine kleine, aber umso lautere Minderheit ist, die antifeministische Postings schreibt. Wie findet man so etwas überhaupt heraus und wie kann man so etwas quantifizieren? Gibt es dazu Umfragen? Und nebenbei bemerkt denke ich nicht, dass wir ein Problem mit der Wut an sich haben, sondern mit einer ganz bestimmten Wut. Und zwar ein Zorn, der sich als hasserfülltes Ressentiment und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Luft verschafft. Man kann angesichts der Verhältnisse in unserer gegenwärtigen Gesellschaft schnell einmal wütend werden, aber das heisst nicht zwangsläufig, dass man seine Mitmenschen virtuell anpöbeln und anspucken muss, wie das die Wutbürger mit ihren Shitstorms tun. Ist aber nur ein kleines Detail, ansonsten finde ich den Artikel recht gut.

  • Man ist geneigt zu sagen, das Internet verdirbt den Charakter, Aber das stimmt nicht.
    In den sozialen Medien wird so "geredet, wie man seit jeher im Wirtshaus redet. Das haben aber bestenfalls ein paar Hanseln vernommen und es war wurscht, was einige Deppen von sich gegeben haben.
    Durch die sozialen Medien erfährt man viel über die Seele eines Volkes. Was früher nur vermutet werden konnte, kommt nun tatsächlich zum Vorschein.

    • Ich glaube auch nicht, dass das Internet den Charakter verdirbt - das wäre eine zu einfache Erklärung. Viel mehr würde ich vermuten, dass wir alle schönere und wenigere schöne Seiten haben, jedoch leider im Netz vielfach letztere sichtbar werden. Und umso mehr glaube ich, dass wir online Tools und Umgangsformen finden müssen, damit wir uns als Gesellschaft nicht ständig so anstänkern. Ein öffentliches Forum ist eben kein Wirtshaus und diejenige, über die hergefahren wird, kriegen diese Beleidigungen durchaus mit und nehmen sie (auch wenn das manche nicht zugeben würden) sehr wohl zu Herzen.

  • Ich finde den Artikel sehr interessant und gut, sehe jedoch einige Dinge etwas anders.
    1) Sprache: Der Sprachgebrauch ist heute leider sehr gewalttätig und vulgär. Daher ist es kein Wunder, wenn die Leute auch im Internet entsprechend schlimme Dinge schreiben. Es scheint unter vor allem jüngeren Generation üblich zu sein sich gegenseitig zu beschimpfen obwohl es keiner wirklich ernst meint. Wenn ich in meiner Hauptschulzeit von einem Mitschüler während einem streit gehört hätte: "Ich bring dich um, du miese Sau" hätte ich ernsthaft um mein Leben gefürchtet. Soweit ich es mit bekomme ist dies heute eher eine mächtig Drohgebärde, welche aber aufgrund der Häufigkeit mit der sie eingesetzt wird nicht mehr so ernsthaft wirkt. Dies ist wahrscheinlich ein extremes Beispiel und solche Aussagen sollten niemals auf die leichte Schulter genommen werden, aber ich hoffe dass mein Anliegen damit klar ausgedrückt wurde.
    2) Überkorrektheit: Durch die "Political Correctness" sind viele Leute über sensibilisiert und sehen hinter jeder noch so harmlos gemeinten Aussage gleich das Schlimmste. Bei einem Gespräch von Person zu Person kann man anhand der Tonlage, Gestik und Mimik besser einschätzen wie etwas gemeint ist. Im Internet geht dies nicht und ich denke, dass viele eigentlich harmlosere Aussagen oder Meinungen gern negativer interpretiert werden als sie sind. Wenn man zum Beispiel schreibt, dass die Frau Minister eine eingefleischte Femme ist und sich lieber um wichtigeres Kümmern soll wird man sofort als Frauenfeindlich und "schlecht" angesehen. Es kann aber auch einfach gemeint worden sein dass die Frau Minister stark für Frauenrechte einsteht aber meine persönliche Meinung ist, dass sie sich mehr um die anderen und wichtigeren Dinge in ihrem Aufgabengebiet als Ministerien widmen soll (z.B. Unterrichtsreform und Familienbeihilfe). Der Mensch fühlt sich leicht angegriffen und der, meines Erachtens, "Wahn" der politischen Korrektheit hat dieses Gefühl verstärkt
    3) Shitstorm: Ich habe die Kommentare auf Facebook zu diesem Thema gestern Vormittag gelesen. Ich möchte nicht leugnen, dass leider einige Kommentare nichts als Beschimpfung waren, jedoch konnte ich von einem Shitstorm nichts erkennen. Die meisten Kommentare waren einfach Meinungsäußerungen, dass man die alte Hymne wieder haben will. Man macht es sich leider viel zu einfach. Sobald ein Haufen Leute per Internet mit einer gegenteiligen Meinung reagiert ist es gleich ein Shitstorm. Das äußern einer anderen Meinung als der gewünschten hat nichts mit Shitstorm zu tun.
    4)Toleranz: Solange man sachlich bleibt und den anderen nicht beschimpft muss eine jede, nicht vom Gesetz verbotene, Meinung toleriert werden. Meist sind es jedoch die Leute Zurückhaltung und Toleranz verlangen, welche sich am lautesten aufregen. Auch in diesem Artikel wurde mit wenig Toleranz auf nicht genehme Aussagen reagiert. So sind laut Artikel alle Leute, welch der Meinung sind, dass die Aktionen von Feministinen bereits zu weit gehen Antifemen und Frauenfeinde, die nur lautstark schreien und Unruhe stiften können. (Da sieht man wie leicht das geschriebene Wort negativ interpretiert werden kann) Ich selbst bin jedoch auch der Meinung, dass man teilweise bereits zu Weit gegangen ist. Ich bin deswegen jedoch noch lange kein Frauenfein und bedroht oder beschimpft habe ich wegen diesem Thema auch noch keinen Menschen.

    Abschließend möchte ich einfach sicherheitshalber festhalten, dass ich nicht das Verhalten von den "Schwarzen Schafen", welche Drohen, Schimpfen und Demütigen rechtfertigen will. Mein Ziel ist es auf zu zeigen, dass wenn einmal die Emotionen hoch wogen, sehr vieles nur negativ gesehen wird und vieles schlimmer erscheint und dargestellt wird als es in Wahrheit ist.

    Das Problem liegt nicht an der Anonymität. Das Problem liegt auch nicht an der Wut. Menschen dürfen wütend sein und sollen dies auch, auf gesittete Weise, zum Ausdruck bringen dürfen. Das Problem ist, dass wir den Leuten nicht mehr bei bringen, dass man nicht immer recht haben muss und dass es nicht immer nur richtig oder falsch gibt. Solange die Gesellschaft nur die Extreme Richtig und Falsch kennt und alles was nicht "Richtig" ist automatisch als falsch ansieht, solange werden wir nicht sinnhaft diskutieren und reden können. Solange wird am Ende jeder zu Schreien und schimpfen zurück greifen weil keiner nachgeben kann. Denn wer nachgibt ist aus der heutigen Sicht der Gesellschaft, so habe ich dien Eindruck, Schwach, Unfähig und Wertlos.

    • Wie Sie richtig sagen, sind wir uns vielleicht in einigen Details nicht ganz einig, ich glaube aber auch, dass wir online eine Kultur des "Let's agree to disagree" lernen müssen, bei der man anderer Meinung ist, diese Meinung aber so ausdrückt, dass sie den anderen nicht verletzt oder einschüchtert. Was den Hinweis auf Mimik und Gestik betrifft, haben Sie absolut Recht. Über die Bedeutung der nonverbalen Signale - und wie schwierig es ist, wenn diese nicht sichtbar sind - habe ich ausführlich in meinem Buch geschrieben: https://www.brodnig.org/buch-der-unsichtbare-mensch/ Danke für Ihren Beitrag!

  • Heinisch-Hosek macht zwar viel falsch, aber das hat sie goldrichtig gemacht. Und nein, sie braucht keine besseren Social Media Berater, die ihr in Weicheier-Manier politisch verträgliche, empathische Meinungslosigkeit verordnen. Es passt schon, dass eine Ministerin auch mal jenseits aller Wahlspekulationen eine echte Meinung vertritt und keine zusammengestoppelten, konturlosen Wischiwaschi-Plattitüden liefert (dann sagt sie besser gar nichts).
    Und wie der Shitstorm zeigt, ist Schulmeisterlichkeit bei diesem Thema beinahe unvermeidbar (nicht nur gegenüber Herrn Gabalier) wenn man sich im Lager der völlig entarteten, geschmacklosen Gleichbehandlungsgegner nicht wohl fühlt.
    Was hier zu Tage tritt, ist der wahre kulturelle Boden Österreichs, eine seit Jahrhunderten gepflegte Kultur des Neides, der gegenseitigen Verachtung und des Mießmachens - der Charakter der österreichischen Volksseele. Auf diesem Boden gedeihten von Metternich über Hitler bis hin zur heutigen FPÖ diverse Ideologien der Menschenverachtung und es ist kein Zufall, dass gerade in Österreich mit Life-Ball, Frau Wurst u.a. eine vor allem international einzigartige Gegenbewegung entstanden ist - provoziert durch massive Unterdrückung eines allgemeinen Gleichbehandlungsprinzips.
    Ich bin der Frau Ministerin dankbar, denn es hat zu Tage gefördert, wie dieses Volk wirklich tickt. Es kommt zwar nicht überraschend, denn wer die Online-Leserkommentare in diversen Zeitungen hin und wieder überfliegt, findet in diesem Shitstorm leider nichts Außergewöhnliches.
    Ich behaupte nicht, wir wären alle (latent) so. Vielmehr müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Österreich keine Kulturnation ist - es sind 2 Kulturnationen, von denen die eine ideologisch in der Vergangenheit lebt und die andere feiert sich als liberal, hat aber nicht den politischen Willen diese Gesinnung mehrheitsfähig zu machen, sondern schielt auf Wählerstimmen und versucht nicht anzuecken.

    • Es gibt hier sogar noch mindestens eine dritte Kulturnation: zu ihr gehören jene, die mehr im im bescheidenen Alltag und im Untergrund und jenseits der medialen Aufmerksamkeit an einer besseren Welt und für eine bessere Welt arbeiten. Das sind aber gleichzeitig auch jene, die dann von den anderen beiden Kulturnationen als "Gutmenschen", "linkslinke Chaoten" oder "Ökoemanzen" angegriffen werden.

      • Danke, kannte ich schon.
        Ich halte den "Heimat-Aspekt" aber für unbedeutend. Ob da Töchter stehen, kratzt aus Sicht des Heimat-Empfindens vermutlich niemanden.
        Es ist auch lustig, wie sehr man hier augenscheinlich fassungslos nach Erklärungen und Motive sucht, wo es im Grunde doch sehr banal ist (was viele Journalisten berufsbedingt wohl nicht so auf sich beruhen lassen wollen).
        MMn. kommt an erster Stelle, dass HH vor allem in der Vergangenheit keine wirklich elegante Performance hingelegt hat und bei vielen mit ihrer Art (die überhaupt nicht professionell wirkt) sauer aufgestoßen ist - ganz besonders bei jenen, die generell politische Aggression gegen vermeintlich linke PolitikerInnen entwickelt haben.
        Bildungspolitik und Frauenpolitik sind allerdings keine Themen, an denen sich die dumpfe Wut entladen könnte, weil man dazu ja auch ein wenig Fachwissen bräuchte, aber bei der Hymne fühlt sich auch der Dümmste kompetent genug, seinen Schleim los zu werden.

  • Liebe Frau Brodnig,

    ich würde mich über ein Gespräch freuen, inhaltlich ob und inwieweit Sie sich eine Teilnahme (Kurzreferat) an einem Workshop des 16. Österreichischen Journalistinnenkongresses vorstellen könnten!
    Oder auch Ihr Buch präsentieren!
    Wir arbeiten hier thematisch mit Daniela Kraus und Meral Akin-Hecke zusammen!

    Ich freue mich auf Ihre Antwort,
    herzlichst
    Monika Posch

    • Liebe Frau Posch,

      habe Ihnen gerade ein E-Mail geschrieben. Freue mich über die Anfrage und bin gerne für ein Gespräch erreichbar!

      Besten Gruß,
      Ingrid Brodnig

  • Michel Reimon hat sich einmal in einem Blogpost in die Richtung geäußert, daß alle Menschen, die in Politik gehen, sich der ungenierten Öffentlichkeit und ungefilterten Meinungsäußerung bewußt sein müssen und es in der Regel auch sind. Wenn wir zudem berücksichtigen, wie die Parlamentarier und Politiker untereinander Umgehen (der Deutsche Roger WIllemsen hat ein analytisches Protokoll des Berliner Bundestags kürzlich vorgelegt), dann sehe ich die Gefahr, daß Frau Heinisch-Hosek künftig schweigsamer ist, eher nicht gegeben.

    Ich könnte jetzt zynisch sagen, daß in Europa es schon zu lange keinen ordentlichen Schießkrieg mehr gegeben hat, in dem die Menschen ihr Mütchen hätten kühlen und ihre überschüssige negative Energie hätten ableiten können, Leider zeigt die Erfahrung, daß Aggression ein nichtversiegender Quell menschlichen Handelns ist.

    Bedenklich finde ich vor allem aber, daß diese Unverhältnismäßigkeit der Reaktionen im digitalen Raum dazu führt, daß mehr über die Unverhältnismäßigkeit der Reaktionen im digitalen Raum debattiert wird, als über die Sache selbst oder wenigstens die Ursache dieser regelmäßig wiederkehrenden Ausbrüche.

    Umberto Eco hat einmal, ich glaube: im "Foucault'schen Pendel", dazu geraten, nie mit Idioten zu diskutierten, denn es bestehe die Gefahr, "die Leute könnten den Unterschied nicht feststellen". Und ich halte weder die Haltung des Barden gegenüber der neuen Bundeshyme für sonderlich professionell, noch die Reaktion der Grünen Frauen oder eben der Bildungsministerin. Da treffen lauter Trotzköpfchen aufeinander.

    Das Problem jeder österreichischen Bundesregierung war und ist, daß sie abgesehen vom vier- und fünmfjährigen Urnengang sich eher wenig für die Meinungen und Haltungen derer interessieren, die sie eigentlich repräsentieren. Die Gleichstellungspolitik in ihrer Gesamtheit empfinden - zu Recht oder Unrecht - viele Menschen als "von oben nach unten" diktiert. Es fehlt an Rückversicherung und Einbindung der Bevölkerung, was es dann schreienden Postern und schreienden Popoulisten leicht macht, sich als "Volkes Stimme" zu geben.

    • Ich vermute, gemeint ist dieser Beitrag von Michel Reimon: http://www.reimon.net/2014/01/25/die-krankung/ Den fand ich auch sehr spannend, wobei ich ihn etwas anders interpretierte: Nämlich dass man als Politiker natürlich eine dicke Haut braucht, aber dass es einen schon nachdenklich stimmen kann, wie dick diese Haut mitunter sein muss.

      • Ja, stimmt, auch die - doppelte - Interpretation. Reimons Beitrag verstehe ich auch als Warnung und damit auch als Diskurskritik.

        Wir brauchen natürlich auch eine Debatte über die Debattenunkultur, wie Roger Willemsen in seinem Buch aber zeigt (oder zu zeigen sich anschickt), ist diese auch Produkt fehlender demokratischer und partizipativer Diskurse, die tatsächlich etwas bewirken; Wenn eine Gesetzesvorlage ins Parlament kommt, ist schon so gut wie alles ausgehandelt und entschieden, eine echte Aussprache, die etwas verändern könnte, findet nicht statt.

        Ohne jetzt die "Strukturkarte" ziehen zu wollen, sind diese Angriffe ad personam und Schreiattacken in Großbuchstaben auch von der erstarrten repräsentativen Demokratie mitverurdacht.

  • Ich finde den Artikel sehr gut.
    Ein eventueller Antifeminismus wurde aber provoziert.
    Auch ich hoffe, dass BM Heinisch-Hosek weiterhin die ihr wichtigen Themen vermittelt.
    (Frei nach dem Motto: "Wenn ich sonst keine Sorgen habe ...)

    Entlarvung ist manchmal wichtig.

    • Vielen Dank! Zur Entlarvung fällt mir jedoch ein - ganz anderes - englisches Sprichwort ein: Ignorance is bliss. Manchmal geht's einem vielleicht sogar besser, wenn manche Dinge ohne Kenntnisnahme an einem vorüberziehen.

  • Yep, auch hier ist ein Beitrag zu finden.Ein kleiner privater neuer Blog
    pipabloggt.wordpress.com

    Im Übrigen: Grenzgenial, Dein Beitrag !

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