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“Zeit für Gedanken? Gab es in der Politik nicht”

Politiker als Burnout-Opfer? Sie reden nur ungern darüber, wie ausgebrannt sie sind. Und doch leidet die Politik an akuter Erschöpfung, weiß Daniel Kapp, einst Pressesprecher des Vizekanzlers

Er braucht eine Auszeit, deswegen zieht sich Rudi Anschober bis Jahresende aus der Politik zurück. Der grüne Landesrat leidet an Burnout. Nur selten geben Politiker zu, dass sie am Rande ihrer Kräfte sind oder im Termin-Wirrwarr kaum noch zum Nachdenken kommen. Stattdessen schalten sie den “Autopiloten” ein und hoffen, das nächste Interview heil zu überstehen. Das berichtet zumindest Daniel Kapp, der jahrelang an vorderster Front im Politgeschäft tätig war: Zuletzt arbeitete er als Pressesprecher von Vizekanzler und ÖVP-Chef Josef Pröll, bis dieser aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat. Ein Gespräch über eine Politik, der eine wertvolle Ressource fehlt: Zeit.

 

Anschober: Auszeit wegen Burnout

Herr Kapp, sind Politiker wirklich so burnoutgefährdet?

Absolut. Der Job eines Politikers hat eine unglaubliche Beschleunigung erlebt. Rund um die Uhr muss man auf etliche Themen eine Antwort haben und abrufbar sein. Das ist weder für Politiker noch für deren Mitarbeiter auf Dauer beherrschbar.

 

Wie arg ist der Alltag eines Spitzenpolitikers?

Lassen Sie mich die letzte Woche von Josef Pröll schildern: Die begann mit einem Krisengipfel der Finanzminister zu Griechenland. Um fünf in der Früh flog Pröll am Montag nach Brüssel, verhandelte dort zwei Tage lang. Dienstagabend ging es zurück nach Linz, dort gab es Verhandlungen mit Landeshauptleuten und dem Sozialminister zur Pflegelösung, die bis drei Uhr nachts dauerten. Am nächsten morgen um neun da eine Pressekonferenz mit der Präsentation der Verhandlungsergebnisse. Danach ab nach Wien zu einem Termin mit dem Bundespräsidenten. Dann schlief Pröll einmal zuhause. Am Donnerstag ging es weiter nach Innsbruck, zu verschiedenen Terminen, abends eine ÖVP-Frauen-Veranstaltung, tags darauf war ein Skinachmittag mit Opinion Leaders im Hochzillertal geplant. Und bei dieser Gelegenheit hat Pröll dann seinen Lungeninfarkt gehabt. Und all das war nur die unmittelbare Arbeit. Parallel dazu stehen permanent Telefonate und Interviewanfragen an. Und bei jedem Termin muss man voll präsent sein. Irgendwann ist das psychisch und physisch zu viel.

 

War der Stress der Grund für die Lungenembolie von Josef Pröll?

Als Nichtmediziner wäre es vermessen, da Zusammenhänge hinein zu interpretieren. Die Lungenembolie ist eine medizinische Erkrankung und wird mit dem Stress wohl nix zu tun haben. Nur eines ist sicher: Der Job hat ihn sicher dazu gefordert, körperliche Grenzen zu überschreiten.

 

Herr Anschober meint, er habe bis zu 100 Stunden pro Woche gearbeitet. Ist das realistisch?

Ja, als Landesrat muss man ständig am Land unterwegs sein. Das war bei Pröll ähnlich: Der hatte nicht nur seinen Job als Finanzminister und Vizekanzler, sondern musste auch durch die Ländern touren. Diese Erwartungshaltung gibt es in den Bundesländern. Sonst heißt es, man ist abgehoben. Und gleichzeitig gehört auch die Medienmaschinerie bedient. Wenn ein Thema aufkommt, wird einem Parteichef erwartet, dass er nach einem zehn-Stunden-Tag um 22 Uhr in der „ZiB2“ sitzt und voll präsent ein Interview gibt. Ich meine: Politik und Medien bräuchten eine Entschleunigung.

 

Glauben Sie, werden in Zukunft noch mehr Politiker zurücktreten, weil es ihnen einfach zu viel wird?

Stellen Sie sich vor, eine Partei würde sagen: Danke, wir sehen uns das gründlich an und geben in zwei Wochen eine Stellungnahme ab
Sicherlich. Oder es werden Leute nachkommen, die den Job nicht ganz so ernst nehmen und sich auf diese Weise vor der Belastung schützen. Ein Beispiel für die Beschleunigung: Verteidigungsminister Norbert Darabos hat über mehrere Monate hinweg einige Modellen berechnen lassen, wie ein neues Bundesheer aussehen könnte. Das hat er dann präsentiert und in derselben Sekunde wussten FPÖ, BZÖ, ÖVP und Grüne auch schon, was sie davon halten. Wie geht das? Indem sich keiner das seriös angesehen hat. Der Druck ist da, sofort zu reagieren. Stellen Sie sich vor, eine Partei würde sagen: „Danke, wir werden die Modelle zwei Wochen gründlich ansehen und dann eine Stellungnahme abgeben.“ Das wäre zwar seriös, würde aber keiner akzeptieren.

 

Sie fordern Entschleunigung. Wie denn? 

Indem nicht jeder Spitzenpolitiker zu jedem Mist gleich etwas sagen muss. Indem man etwas langsamer diskutiert und Raum zum Nachdenken zulässt. Manchmal kommen mir Politik und Medien wie eine riesige Big-Brother-Show vor, in der jede Drehung und Wendung hysterisch analysiert wird.

 

Ist so eine Entschleunigung realistisch?

Die Frage ist, ob die Medien wirklich von jedem sofort eine Antwort brauchen. Diese Verantwortung liegt bei den Medien und den Politikern. Man kann sich sehr wohl manchmal entziehen. Schüssel hat das mitunter gemacht. Dann wurde ihm vorgeworfen, der Schweigekanzler zu sein.

 

Vielleicht wollte Schüssel auch nur lästige Debatten vermeiden.

Vielleicht war er der Auffassung, es gibt einen Zeitpunkt, wo man etwas sagen muss, und einen Zeitpunkt, wo man sich noch zurückhalten kann.

 

Ärgert Sie, dass viele über die faulen Politiker schimpfen?

Ich bin froh über meinen Ausstieg. Ohne eine Diät zu machen, habe ich seither 20 Kilo abgenommen
Mich ärgern die Fellners dieser Republik, die unangemessene Bilder von Politikern erzeugen. Ich würde nicht zurück in die Politik und bin froh über meinen Ausstieg. Ohne ein Diät zu machen, habe ich seither 20 Kilo abgenommen, weil ich wieder zu normalen Zeiten essen kann, weil ich nicht mehr im selben Ausmaß dem Alkohol ausgesetzt bin. Man ist permanent bei Veranstaltungen, bei der einen gibt es ein Schnapserl, bei der anderen einen Pfiff. Jetzt hab ich wieder Zeit für Freunde, Zeit für Gedanken. All das gab es in der Politik nicht.

 

Sollten sich die Politiker auch trauen, ihre menschlichen Schwächen zu zeigen?

Sicherlich. Nur glaube ich, würde die Medienmaschinerie darauf sehr unbarmherzig reagieren. Die „ZiB2“ hat kein Verständnis dafür, wenn ein Politiker um 22 Uhr nicht mehr ins Studio kommt, wenn ein Thema gerade aktuell ist.

 

Aber auch die Journalisten leiden unter dem Aktualitätsdruck und der permanenten Erreichbarkeit.

Drei Uhr früh. Ich wach auf, seh das SMS und denk mir: “Ich muss den Chef informieren”
Der Unterschied ist nur: Pressesprecher und Politiker sind rund um die Uhr im Job. Ich bin 24 Stunden sieben Tage die Woche die Anlaufstelle für Journalisten gewesen. Die Redakteure haben zwischendurch mal einen Tag frei und da ist ihnen völlig egal, was passiert, weil gerade ein anderer Dienst hat. Zum Ende hin habe ich dann versucht, selbst Grenzen zu ziehen. Von Freitagabend bis Samstagabend hab ich mein Handy abgeschaltet und nur mein Kollege war erreichbar. Wenn ein Thema wichtig genug ist, erreicht es einen ohnehin. So war das beim Tod von Jörg Haider: Da erhielt ich um drei Uhr nachts das SMS. Ich wach auf, seh das SMS und denk mir: „Ich muss den Chef informieren.“ Um sechs Uhr früh läuft das Frühjournal auf Ö1, um sieben Uhr das Morgenjournal, da muss der ÖVP-Chef ein Statement abgeben. Also habe ich Pröll um drei Uhr früh angerufen und kaum war das Gespräch beendet, ruft Fritz Dittelbacher vom ORF an und fragt: „Wann können wir deinen Chef interviewen?“ Um sechs in der früh haben wir dann das Interview vor dem Parlament gemacht. Übrigens an einem Wochenende, das Pröll ausnahmsweise mal mit der Familie verbringen wollte.

 

Nur wissen die meisten Leute nicht, wie schnell diese Medienmaschinerie tickt.

In diesem Geschäft kommen wir nicht mehr zum Nachdenken. Du turnst von einem Tag zum anderen, schaltest den Autopiloten ein
Ja, mir geht’s auch nicht um Mitleid. Die Menschen in der Politik wissen schon, worauf sie sich da einlassen. Nur erklärt das Ganze auch die zunehmende Verflachung. In diesem Geschäft kommen wir nicht mehr zum Nachdenken. Als Pröll Landwirtschaftsminister war, hatten wir noch halbwegs Ruhe, um nachzudenken. Doch irgendwann kommst du in so einen Strudel gleichzeitiger Themen und Anforderungen, dass du dich selber nicht mehr spürst. Dann turnst du nur noch von einem Tag zum anderen, schaltest medial den Autopiloten ein, dessen einziger Anspruch ist, bloß keinen Blödsinn zu sagen. Du turnst dich also von Interview zu Interview und versuchst, ja keinen Wurstsemmel-Sager abzuliefern – also keine achtlose Aussage, die dir wochenlang um die Ohren fliegt. Deswegen verwendest du eine unangreifbare, belanglose und inhaltsleere Floskelsprache, einfach um zu überleben. Das merkt man bei Kanzler Faymann und bei vielen anderen Politikern auch. Diese Politikersprache ist nur noch auf eines ausgerichtet: unbeschadet über die Runden kommen.

 

Zur Person:

Daniel Kapp war von 2000 bis 2011 Pressesprecher verschiedener Regierungsmitglieder, zuletzt von Vizekanzler und Finanzminister Josef Pröll. Nun ist er strategischer Kommunikationsberater, der Standard widmete ihm zu seinem Abgang sogar ein eigenes Porträt (“Niemals nur ein Kofferträger“), auch der Österreichische Journalist berichtete über Kapps neues Berufsleben. Daniel Kapp ist auch auf Twitter.

 

Eine kürzere Fassung dieses Interview ist auch im Falter (Ausgabe 39/12) nachzulesen. Diese längere, ausführliche Fassung gibt es nur hier im Blog. Fotos: European People’s Party / Mauri Ratilainen / Compic & Grüne Wels

 

 

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  • Erstmal: Danke für diesen schönen Überblick!

    Mir scheint, Kommentare werden momentan fast nur als lästiges Service gesehen das aus rechtlichen Gründen beaufsichtigt werden muss.
    Dabei könnte man das Ganze auch als gratis bereitgestellten user-generated content sehen der die Homepage der Zeitung stark aufwertet.
    In Österreich wäre derStandard.at ein Beispiel: Mit ein bisschen Filtern und/oder blocken ist deren Kommentarbereich oft äußerst interessant. Gerade bei technischen Artikel (die oft selbst eher schwach sind) oder zu witzigen Artikeln, sind die Kommentare schon ein echtes Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zu anderen Seiten ohne aktive Community.

  • Es gibt Benutzer, die können mal trollen. Diese kann man ermahnen, mit ihnen darüber reden und sie evtl. auf den rechten Pfad bringen. Bei echten trollen ist das alles vergebene Liebesmühe. Da muss man auch nicht tollerant sein oder irgendwelche Zensurvorwürfe gefallen lassen. Ich vergleiche so etwas gerne mit dem realen Leben.

    Beispiel:
    Kommt jemand unbekanntes zu mir nach Hause, grölt rum, pöpelt alle anderen Gäste an oder randalliert, dann fliegt er er sofort raus. Kommt der wieder, hole ich die Polizei. Es ist nicht meine Aufgabe dem Typen Manieren beizubringen. Ich bin weder seine Eltern noch sonst eine dafür verantwortliche Person. Und es ist auch nicht meine Aufgabe, dass er sich an Gesetze hält, für derartige Verstöße ist die Polizei da, auch im Netz.

    Meine Seite ist wie meine Wohnung, dort habe ich das Hausrecht und das sieht bei mir vor, dass man sich zivilisiert benimt. Ich muss und werde in meinen vier Wänden keine Arschlöcher, Kriminelle oder gewaldbeeite Randallierer dulden. Und so wie man auch im analogen Leben derartige Typen sofort vor die Tür setzt und/oder die Polizei benachrichtigt, so ist es auch im digitalem Netz. Denn ob die realen vier Wände oder das Internet, die Arschlöcher/Trolle sind in beiden Welten die selben.

  • Entschuldigung, es sieht langsam nach absichtlich kontrollierte ZENSUR mit der Ausrede von Anonymität aber in WAHRHEIT versucht man schon seit Jahren dies zu zensieren. Wenn man beleidigt wird, dann muss man sich ändern oder sich fragen was an sich nicht gemocht wird dass die Leute die Person beleidigen. Die Beleidigung ist zuerst geprägt von Unzufriedenheit der Massen und dies hat immer ein Grund und zwar demokratisch gesehen werden die Massen entscheiden wer akzeptiert wird und wer nicht und zwar als Führer oder Orator der Gesellschaft. Zur Zeit sind viel unwichtigen Personen die nur bezahlt sind die Massen zu stören und plötzlich kommen auch die Antworten. Also die Reaktion der Massen kann man nicht ignorieren oder als rassistische bezeichnen weil als soziale Gerechtigkeit alle Menschen die etwas nicht akzeptieren werden dann laut hier die Analyse als RASSISTEN bezeichnet und auch weiter beschimpft oder ganz isoliert. Man kann die Rechte der Menschen nicht entfernen nur weil ein paar politiker oder Zeitungen dies nicht mögen wenn das Volk sie beleidigt oder kritisieren, also jeder Mensch hat das Recht seine Meinung mit oder ohne BGB zu äußern und die Äußerung kann stören aber muss man sich fragen was störend war und nicht sofort alle als Rassisten zu beschimpfen. Wenn man unsere politiker analisiert dann darf keiner von ihnen an der Macht nicht stehen, die haben und belogen und verraten also die sind laut Gesetzt trotzdem Rassisten und verachtend weil die sich überhaupt nicht um unsere Problemen kümmern. Seit dem diese invasoren nach DE kamen, haben unsere politiker alles vergessen, die Arbeitslosigkeit, die Arbeitsplatzbeschaffung, der Arbeitgeber zeigen auch keine Interesse mehr für Arbeitslosen, Griechenland ist super glücklich, der euro ist stark wie eine tote Maus..., wir sind am ENDE und wir werden STÄNDIG abgelehnt mit solchen Kleinigkeiten ABSICHTLICH damit die HAUPTTHEMEN zu vergesen, ABLEHNUNG VON WAHRHEIT. Das ist die Taktik...

  • Natürlich ein klares Nein dazu. Man kann sehr lange darüber diskutieren wie man diskutieren sollte aber abdrehen käme ja einer Diktatur gleich. Demokratie haben wir ja ohnedies keine mehr. Aber die Kommis abzudrehen ist ein absoluter NO Go! Danke für deinen Gedankenanstoß. LG Sabine

  • Interessanter Beitrag , doch habe ich nicht die Möglichkeit mich aus solch negativen Postings zurückzuziehen? Ich für meine Person gebe nur Postings, wo ich mich auch "verstanden" fühle. Damit meine ich nicht, das mir automatisch zugestimmt wird, sondern wo das Niveau hoch genug ist, eine Kritik oder andere Meinung zu akzeptieren und darüber sich auszutauschen.

    • Liebe Waltraud,
      ich glaube sich zurueckzuziehen ist nicht das Allheilmittel fuer alle User. Denn die Menschen, die in Foren mit einseitiger Meinungsbildung verkehren, werden systematisch falsch informiert, was zu der angesprochenen Abgrenzung dieser Gruppe fuehrt. Durch die Abgrenzung sind die Mitglieder der Gruppe nicht mehr offen fuer rationale Argumente, da diese ja von der "Luegenpresse" stammen. Eine soche Isolation ist immer gefaehrlich, da die Gruppe von der Realitaet entkoppelt ist. Wenn diese Gruppe entschlossen genug ist, etwas zu bewegen, koennen Phaenomene, wie der IS entstehen (auch, wenn fuer die Entstehung des IS mehrere faktoren zusammengekommen sind, aber am Ende lauft es darauf hinaus, dass eine isolierte Gruppe wild entschlossen war etwas zu bewegen...).

      • Werte Waltraud Aouida, werter Matthias, danke für die beiden Kommentare! Ich verstehe gut, dass man manche digitalen Diskussionsräume lieber meidet - oft ist das Klima so rau, dass eine sachliche Debatte auch gar nicht möglich ist. Für den einzelnen User mag also ein Rückzug oft sinnvoll sein, für die Gesellschaft als Ganzes ist das aber riskant. Ich teile Matthias Sorgen, dass ein Rückzug genau den Falschen nützt - jene, die sich über diese Polarisierung freuen. Dazu eine Ergänzung: Manche Gruppen versuchen bewusst, einige öffentliche Diskussionsräume einzunehmen und mit ihrer Meinung zu besetzen. Zum Beispiel sind Antifeministen im Netz sehr aktiv und posten leidenschaftlich (und oft sehr aggressiv) unter Artikeln, in denen es um Frauenrechte und um Feminismus geht, den sie ablehnen. Das raue Diskussionsklima führt dazu, dass sich einige Menschen abwenden und lieber anderswo (oder nur im privaten Raum) weiterdiskutieren. Diese Taktik wird auch als „Silencing“ bezeichnet: Man ist so grob und so rüpelhaft zu anderen, dass diese einfach nicht mehr das Wort ergreifen wollen - und somit sollen auch andere Sichtweisen letztlich ausgeblendet werden. Zum Teil funktioniert diese Strategie. Was also tun? Ich finde es wichtig, dass Webseitenbetreiber und Onlinemedien mehr Verantwortung für den Umgangston auf ihrer Seite übernehmen und auch stärker die Diskussion vor der Entgleisung bewahren. Solche Räume gibt es, zum Beispiel hat „Zeit Online“ ein sehr gut moderiertes Forum. In anderen Worten: Ich finde es wichtig, dass digitale Räume verteidigt und geschaffen werden, in denen Menschen respektvoll miteinander diskutieren. Übrigens verstehe ich Ihre Formulierung mit dem „verstanden werden“ sehr gut: Das Entscheidende ist nicht, dass man überall einer Meinung ist, sondern dass man in der Lage ist, sachlich und fair miteinander zu diskutieren.

    • Werter Emanuel, danke für die Reaktion. Wir sind uns offensichtlich nicht überall einer Meinung, aber es freut mich nichtsdestotrotz, dass Sie so gründlich auf die einzelnen Überlegungen eingegangen sind. Zu Ihrer Antwort, im Kern entnehme ich daraus drei Einwände: Erstens haben Sie Recht, dass mein Vortrag nur ein sehr eingeschränktes, gut gebildetes Publikum erreichen wird und oftmals jene Menschen, die ganz ähnlich sind wie ich, die in der gleichen Blase sitzen wie ich. Das gibt mir, ehrlich gesagt, oft zu denken auf und die perfekte Antwort auf diese Filterblase habe ich nicht. Ich glaube aber, dass allein im letzten Jahr dieses Thema ungeheuer breitenwirksamer geworden ist. Ich habe im Jahr 2014 ein Buch über Anonymität und Diskussionskultur im Internet veröffentlicht und merke, wie mehr und mehr Menschen über dieses Thema auch reden wollen. Das ist zwar womöglich noch immer eine Minderheit (vielleicht auch nicht), mein Eindruck ist jedenfalls, das Bewusstsein wächst. Zweitens: Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie die Gefahr, dass die Debatte hierzu erst recht polarisierend wird (da kämpfen dann quasi die vermeintlich „Guten“ gegen die vermeintlich „Bösen“). Differenzierung ist wichtig, da stimme ich Ihnen zu. Ich warne nur vor der Gefahr, eine Debatte dann als „differenziert“ zu verstehen, wenn sie auch untergriffige oder gar verletzende Wortmeldungen enthält, oder wenn kein Unterschied zwischen belegbaren Fakten und wilden Gerüchten gemacht wird. Nun könnte man natürlich einwenden: Wer entscheidet denn, was ein Gerücht und was ein Faktum ist, was eine zulässige Aussage und was eine Beleidigung? In manchen Fällen ist das tatsächlich nicht leicht zu erkennen. Manchmal aber doch - und dann sollte das auch benannt werden. In diesen Fällen finde ich es in Ordnung, dass wir aggressive oder faktisch falsche Wortmeldungen nicht schützen oder gleichrangig behandeln wie die Wortmeldungen jener User, die sachlicher und fairer diskutieren (sachlich diskutieren bedeutet nicht, dass man einer Meinung sein muss, aber dass einen gewissen Grundrespekt - auch gegenüber Fakten - wahrt). Drittens, zum Thema „Filtern“ möchte ich noch auf diese exzellente Wortmeldung von Armin Wolf hinweisen: https://www.facebook.com/arminwolf.journalist/posts/1161742677170933 Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie meine Antworten nicht zufriedenstellen oder gar umstimmen wird. Ich habe jedenfalls Ihren Beitrag mit Interesse gelesen.

  • "Nun ist die Wikipedia 15 Jahre alt geworden, ich las neulich eine interessante Zahl dazu: Eine interne Umfrage aus dem Jahr 2011 fand heraus, dass nur einer von zehn Helfern der Wikipedia eine Frau ist. Nur jeder zehnte Wikipedianer ist eine Frau. Erst vor wenigen Wochen brächte der Atlantic einen interessanten Artikel über den Umgang mit Frauen auf Wikipedia. Die Autorin schrieb über das Verhalten mancher Userinnen:

    „Um zu verhindern, dass sie Ziel von Belästigungen werden, nutzen manche Wikipedianerinnen geschlechtsneutrale Pseudonyme und vermeiden es, bei ihrem Usernamen irgendeine persönliche Information anzuführen.“

    Das ist doch erschütternd, dass Frauen verheimlichen, dass sie eine Frau sind – damit ihnen gegenüber niemand unangenehm wird."

    Das passiert, wenn man sich nicht informiert, nicht hinter de Sachen schaut, einfach nur ein paar Sachen ungefiltert abtippt. Dann steht das da und alle glauben es so wie es da steht. Ich könnte jetzt was dazu sagen - aber es hat ja eh keinen Sinn. Wird ja dennoch ignoriert.

    • Sehr geehrter Markus Cyron, wenn Sie auf einer sachlichen Ebene diskutieren und konkrete Beispiele bringen, wo ich angeblich "nicht informiert" bin oder "ein paar Sachen ungefiltert abtippe", dann gehe ich auch noch gerne darauf ein.

      • Ich äußere mich mich mal an dieser Stelle, weil ich genau auf das Wikipedia-Thema eingehen will. Gleich vorneweg: Der Umgangton in der Wikipedia ist an einigen Stellen sehr aggressiv, und natürlich gibt es auch immer wieder gezielte Affronts gegen weibliche Benutzer. Das ist äußerst unschön, da bin ich Ihrer Meinung.

        Liebe Frau Brodnig, leider sind Sie dann aber in eine Falle getappt, die Sie oben selbst treffend beschrieben haben. Diejenigen Stimmen, die am lautesten sind und am meisten an diversen Stellen kommentieren, werden am ehesten wahrgenommen, das gilt eben auch für die weit verbreiteten Aussagen über die "frauenfeindliche" Wikipedia.

        Ich gehöre zu den Frauen, die sich als "Benutzer" eingetragen haben - weil es nämlich für meine Mitarbeit zunächst unwichtig ist, ob ich männlich, weiblich oder sonstigen Geschlechts bin. Wer genaueres über mich wissen möchte, kann mit einem Klick feststellen, dass ich eine Frau bin. Ich habe auch einen geschlechtsneutralen Benutzernamen - nicht weil ich Angst habe erkannt zu werden, sondern weil mir zu dem Zeitpunkt meiner Anmeldung nichts Originelles eingefallen ist, ich aber anonym bleiben wollte.

        Wie gehe ich nun mit geschlechtsspezifischen oder sonstigen Angriffen um? Dagegenhalten, nicht abschrecken lassen, sachlich bleiben, im schlimmsten Falle ignorieren oder kontern, aber nicht jammend durch ganze Internet ziehen, wie böse die Frauen doch wieder behandelt worden sind.

  • Ich fand den Vortrag ebenfalls sehr interessant und freue mich, dass es den hier jetzt auch schriftlich gibt.
    Gilt auch als manueller, absichtlich unaufdringlicher Trackback auf meinen Blogeintrag vom heutigen Tag. :) Wenn du möchtest, kannst du den direkten Link ja selbst hinzufügen. Liebe Grüße!

  • Ich möchte Alnilam hier zustimmen - und dazu sagen: Es gibt übrigens auch männliche Autoren, die sich explizit für einen weiblichen Nick entschieden haben und es gibt weibliche Autorinnen, die gerne austeilen. Wenn man das Thema Frauenfeindlichkeit angehen möchte, sollte man über ausreichend Hintergrundinformationen verfügen. Damit meine ich jetzt nicht die oben beanstandete "Abtipperei" oder speziell Ihren Artikel. Ich meine damit, dass das "System Wikipedia" so komplex ist, dass man zunächst einen Einblick braucht, um auch beurteilen zu können, wann ein Angriff gegen jemanden geht, weil er eine Frau ist - oder wann das praktisch schon zur Wikipedia "same procedure as every day" (unabhängig vom Geschlecht) gehört. Erst dann wird nämlich auch das Thema Frauenfeindlichkeit ernst genommen (und das beziehe ich jetzt nicht ausschließlich auf die Wikipedia, es fällt mir fast tagtäglich auf). Liebe Grüße von einer Autorin der WP

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