Der ORF und die Neonazis
Bericht:
Ingrid Brodnig und Martin Gantner
Damit hatte Philipp R. nicht gerechnet. Über Nacht wurde er zum bekanntesten Rechtsradikalen Österreichs. Die Parteien streiten darüber, was der 19-Jährige bei einer FPÖ-Veranstaltung vielleicht gesagt oder nicht gesagt hat. Journalisten diskutieren, ob der Wiener vom ORF instrumentalisiert wurde. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, ob er sich der Wiederbetätigung schuldig machte. Und Philipp selbst? Er sitzt in der Wohnung seiner Mutter, trägt eine Jogginghose, ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „Leben ist Kampf“ und ärgert sich. „Wenn ich gewusst hätte, dass das so endet“, sagt er, „dann hätte ich da nicht mitgemacht.“ Am liebsten hätte er sich niemals vom ORF filmen lassen.
Eine 30-minütige Fernsehreportage stellte das Leben des jungen Skinheads auf den Kopf. Die Reportage handelt vom trostlosen Alltag des Wieners: von den Geldsorgen, die ihn und seine Mutter plagen, von den fehlenden Perspektiven, die den jungen Mann ohne Schulabschluss und ohne Jobchancen umtreiben, bis hin zur Wut, die er spürt, wenn er über „die Ausländer“ schimpft.
Der ORF-Journalist Ed Moschitz hatte Philipp mehrere Monate lang begleitet. Die Zuschauer erleben einen desillusionierten 19-Jährigen auf seinem Weg zum Arbeitsamt und beobachten, wie der Bursche gemeinsam mit seinem Freund vor Gericht erscheinen muss. Moschitz zeigt einen jungen Menschen in seiner ganzen Widersprüchlichkeit: hin- und hergerissen zwischen dumpfem Ausländerhass und Zuneigung zu seinem türkischen Nachbarn, der auf derselben Stiege wohnt.
Übrig bleibt vor allem eine Frage: Wie viel hat der Philipp im Fernsehen mit dem echten Philipp aus dem Gemeindebau zu tun? Der ORF fuhr mit den Rechtsradikalen auch zu einer Wahlkampfveranstaltung der FPÖ in Wiener Neustadt, wo die Jungs hinwollten. Dort stellten sie sich demonstrativ mit Transparenten vor linke Gegendemonstranten und reihten sich ein, um Fotos und Autogramme von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache zu bekommen. „Sieg Heil!“ will dieser dann aus dem Mund von einem der Skins gehört haben. Strache wirft dem Küniglberg Manipulation und Moschitz Anstiftung zum Neonazismus vor. Der ORF dementiert.
Die Interessen der Politik
Die beiden beschuldigten Skinheads bestreiten mittlerweile selbst, in Wiener Neustadt „Sieg Heil!“ gerufen zu haben. Auch das ausgestrahlte Material lässt starke Zweifel an Straches Version aufkommen. Doch den FPÖ-Chef hindert das nicht daran, sich weiter als Opfer des ORF zu gerieren. Er spricht vom „Küniglgate“ und von gebührenfinanzierten Neonazis.
Den Freiheitlichen bietet der Fall eine willkommene Ablenkung von ihrer Präsidentschaftskandidatin Barbara Rosenkranz. Mit ihrem Eiertanz rund um das Verbotsgesetz hatte sie die FPÖ einmal mehr ins rechte Eck gestellt. Auch die ÖVP fordert auf einmal gebetsmühlenartig hehren Qualitätsjournalismus und unverzerrte Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein. Kritiker befürchten, es gehe den Schwarzen nur um die Vormachtstellung auf dem Küniglberg. Nun schaltet sich auch der grüne Sicherheitssprecher Peter Pilz ein und erstattete am Montag Anzeige gegen unbekannt. Er habe den Verdacht, dass Polizeibeamte auf die Skinheads Druck ausübten und zur Falschaussage im Interesse der FPÖ zwangen.
Der Fall hat aber auch eine andere Dimension als das politische Hickhack. Es geht dabei um die Frage: Was dürfen Journalisten – und was nicht? Wann legen sie Spuren, statt diesen nur zu folgen? Ist es legitim, einem jungen Rechtsradikalen Geld zu geben, damit er sich T-Shirts mit einschlägigen Sprüchen kauft? Die Aussagen der Skinheads und Falter-Recherchen lassen die Arbeitsmethoden des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in einem zweifelhaften Licht erscheinen.
Die Methoden des ORF
Am Küniglberg liegen die Nerven blank. Dem zuständigen Redakteur, Ed Moschitz, wird eine öffentliche Stellungnahme per Weisung untersagt. Nur in der „Zeit im Bild“ durfte er sprechen, um seine Arbeitsweise zu verteidigen. Kaum ein Mitarbeiter will zitiert werden. Sie alle wissen, dass viel auf dem Spiel steht: Für den ORF geht es um seine Glaubwürdigkeit als öffentlich-rechtlicher Sender. Für die „Schauplatz“-Redaktion um den hart erarbeiteten Ruf eines Teams, das für seine Sozialreportagen über die Jahre hinweg zu Recht mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde.
Einer, der Stellung beziehen muss, ist Christian Schüller, Sendungsverantwortlicher vom „Schauplatz“. Er sitzt vergangenen Donnerstag müde in der ORF-Kantine. Die Anstrengungen der letzten Tage sind ihm anzusehen. Er sagt: „Die Kritik der FPÖ ist haltlos. Die Sendung wird die Vorwürfe klar widerlegen.“ Man könne noch so viele Bänder auswerten, auf keinem werde man die von Strache behaupteten Naziparolen finden. „Niemand wurde zu irgendwas gezwungen.“
Die ORF-Führung sprach bisher immer von je 100 Euro, die die beiden Skinheads für die Erlaubnis zum Filmen bekommen hätten. Laut Unternehmenssprecher Pius Strobl scheinen in der ORF-Buchhaltung keine weiteren Zahlungen auf. Die Skinheads widersprechen einander in Details, behaupten aber beide, es sei mehr Geld geflossen. Philipp sagt, es seien 100 Euro pro Drehtag gewesen. Wie Falter-Recherchen im ORF ergaben, dürften die jungen Männer jedenfalls mehr Geld als 200 Euro erhalten haben. 50 Euro bekam zum Beispiel Philipp – bevor er vor laufender Kamera einen rechtsradikalen Shop betrat. Von dem Geld kaufte sich der Skinhead eine Fahne und zwei T-Shirts. Eines davon ist das schwarze Leiberl mit der Aufschrift „Leben ist Kampf“, das er jetzt zuhause trägt. „Leben ist Kampf“ heißt auch ein Song aus dem rechtsradikalen Milieu. Ein Propagandafilm der Nationalsozialisten trug den Titel „Alles Leben ist Kampf“.
Das Geld, das an die beiden Rechtsradikalen floss, wird von ORF-Vertretern das eine Mal als notwendiges Übel für eine heikle Recherche, das andere Mal als normales Vorgehen bezeichnet. Im „Club 2“ vergangenen Donnerstag holte Johannes Fischer, Chef der ORF-Magazine, einen Zettel heraus. Er las vor, dass nicht nur der ORF, sondern auch ZDF, NDR, das Schweizer Fernsehen und der Westdeutsche Rundfunk für die Abtretung von Persönlichkeitsrechten oder für etwaige Aufwandsentschädigungen Geld bezahlen würden.
Beim Zuschauer konnte der Eindruck entstehen, als sei es auch bei den deutschen Kollegen das Normalste der Welt, dass Journalisten ihre Interviewpartner bezahlen. Das stimmt nicht. Natürlich gebe es beim ZDF Aufwandsentschädigungen, sagt Andreas Wunn, Chef vom Dienst der ZDF-Chefredaktion. Gefilmte bekämen manchmal Geld, wenn sie aufgrund eines Drehtermins nicht arbeiten könnten oder einen anderen Termin verpassten. „Grundsätzlich wird aber kein Geld an Protagonisten gezahlt“, sagt Wunn, der so renommierte Magazine wie „Frontal 21“, „ZDF Reporter“ und „ZDF Reportage“ mitverantwortet.
Die Kollegen in Deutschland
„Ich stelle die Situation nicht her, über die ich berichte“, sagt auch Harald Lüders, ein anderer Mitarbeiter des ZDF. Er leitet die Reportageredaktion in Mainz und will die Recherchemethoden des ORF nicht näher kommentieren – für seine eigene Redaktion stellt er jedoch klar: Geld für Neonazis kommt nicht infrage. „Da besteht die Gefahr, dass man Menschen motiviert, sich selbst zu produzieren“, erklärt er. Denn die Leute könnten durch Zahlungen zusätzlich bestrebt sein, der Kamera etwas Sehenswertes zu bieten. Wer trägt dann Schuld an einem Hitlergruß im Fernsehen? Derjenige, der die Hand zum Gruße hob? Oder jene Person, die zuvor Geld gegeben hat, um einen Rechtsradikalen vor die Kamera zu bekommen?
Karlheinz Kopf, Mediensprecher der ÖVP, ortet jedenfalls journalistische Verfehlungen im ORF: „Mein Interesse richtet sich nicht so sehr darauf, ob der ‚Sieg Heil!‘-Ruf wirklich stattgefunden hat – das werden die Gerichte klären –, sondern darauf, ob die Burschen vom Redakteur täglich bezahlt, mit einschlägigen Utensilien ausgestattet und im Produktionsfahrzeug zu einer politischen Kundgebung gefahren wurden.“ Dann nämlich hätte die Redaktion aus einer Reportage fiktionales Programm gemacht und eindeutig Grenzen des journalistisch Erlaubten überschritten.
In der Filmwissenschaft gibt es für Situationen, die erst durch den Journalisten selbst geschaffen werden, einen Fachausdruck: das Pseudoereignis. „Ein Pseudoereignis ist ein Geschehen, das ohne das Zutun oder den Ausblick auf ein Mediengeschehen nicht zustande gekommen wäre. ‚Falsche‘ oder ‚täuschende‘ Ereignisse also, die ohne die Anwesenheit von Medien niemals passiert wären.“
Absurderweise stammt dieses Zitat aus der Magisterarbeit von Ed Moschitz selbst, dem verantwortlichen Redakteur. Er hat seine Diplomarbeit dem Thema „Authentizität in realitätsnahen Fernsehformaten“ gewidmet, sich dort mit der Echtheit, Inszenierung und Manipulation von Reportagen auseinandergesetzt. Umso verwunderlicher ist seine eigene Recherchemethode.
Eine zweifelhafte Bilanz
Am 12. März fahren Moschitz und sein Filmteam die Skinheads auf deren Wunsch hin mit dem Auto nach Wiener Neustadt. Zuerst bringt der Redakteur die Rechtsradikalen zur Strache-Veranstaltung, dann tritt er an den FPÖ-Chef selbst heran und fragt: „Herr Strache, Verzeihung, warum haben die Rechtsradikalen bei Ihrer Ansprache so besonders gejubelt?“ Strache gibt an, keine Neonazis während seiner Rede wahrgenommen zu haben. Erst als er das Fernsehteam sieht, will er Naziparolen gehört haben und wirft Moschitz vor, ein „Agent provocateur“ zu sein. Und die Dinge nehmen ihren Lauf.
Die Justiz wird noch einige Zeit damit zu tun haben, sämtliche Vorwürfe – haltlose wie berechtigte – zu überprüfen. Ein Gutachter wird feststellen, ob das ORF-Band tatsächlich manipuliert wurde, wie das Strache behauptet, oder ob die Naziparolen nie existiert haben, wie die Aussagen der Skinheads und von Moschitz nahelegen. Weiters wird gegen die Neonazis ermittelt, ob sie sich der Wiederbetätigung schuldig gemacht haben. Und bei der Exekutive wird nachgeforscht, ob Polizisten tatsächlich Amtsmissbrauch, Anstiftung zum Amtsmissbrauch oder Nötigung begangen haben.
Doch schon jetzt ist klar, dass der ORF-„Schauplatz“ kein Glanzstück des freien Journalismus war – sondern eine fragwürdige Reportage, die den Küniglberg in Erklärungsnotstand brachte und das Vertrauen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erschütterte. Bedauerlich dabei ist, dass die ethische und juristische Debatte nun das eigentliche Thema überschattet: Hätte der „Schauplatz“ korrekt gearbeitet, hätte man die Skinheads nicht bezahlt und zu einer Jubelveranstaltung für Heinz-Christian Strache geführt, dann wären die 30 Minuten Reportage ein tolles journalistisches Lehrstück gewesen, das die Innensicht eines jungen Rechtsradikalen nachzeichnet und dem Zuseher erklärt, was einen 19-Jährigen heute dazu bewegt, Adolf Hitler anzuhimmeln und Strache-Veranstaltungen zu besuchen.
Statt die Frage zu stellen, was das Bildungssystem, das Arbeitsamt oder der Staat dagegen tun können, streiten Politiker nun über Details einer Fernsehproduktion und tragen ihre Scharmützel aus. Übrig bleibt Philipp. Er sitzt in seiner Wohnung im Wiener Gemeindebau und erlebt gerade seine 15 Minuten zweifelhaften Ruhms. Job ist keiner in Sicht. Auch über die Gräuel des Zweiten Weltkriegs oder die Situation von Migranten in Österreich hat er in dieser Zeit nichts dazugelernt. Nur eines weiß er nun mit Sicherheit: „Ins Fernsehen will ich nach dieser Geschichte nie wieder.“
Das obige Foto zeigt Philipp R. / Credit: Heribert Corn
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Erstmal: Danke für diesen schönen Überblick!
Mir scheint, Kommentare werden momentan fast nur als lästiges Service gesehen das aus rechtlichen Gründen beaufsichtigt werden muss.
Dabei könnte man das Ganze auch als gratis bereitgestellten user-generated content sehen der die Homepage der Zeitung stark aufwertet.
In Österreich wäre derStandard.at ein Beispiel: Mit ein bisschen Filtern und/oder blocken ist deren Kommentarbereich oft äußerst interessant. Gerade bei technischen Artikel (die oft selbst eher schwach sind) oder zu witzigen Artikeln, sind die Kommentare schon ein echtes Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zu anderen Seiten ohne aktive Community.
Es gibt Benutzer, die können mal trollen. Diese kann man ermahnen, mit ihnen darüber reden und sie evtl. auf den rechten Pfad bringen. Bei echten trollen ist das alles vergebene Liebesmühe. Da muss man auch nicht tollerant sein oder irgendwelche Zensurvorwürfe gefallen lassen. Ich vergleiche so etwas gerne mit dem realen Leben.
Beispiel:
Kommt jemand unbekanntes zu mir nach Hause, grölt rum, pöpelt alle anderen Gäste an oder randalliert, dann fliegt er er sofort raus. Kommt der wieder, hole ich die Polizei. Es ist nicht meine Aufgabe dem Typen Manieren beizubringen. Ich bin weder seine Eltern noch sonst eine dafür verantwortliche Person. Und es ist auch nicht meine Aufgabe, dass er sich an Gesetze hält, für derartige Verstöße ist die Polizei da, auch im Netz.
Meine Seite ist wie meine Wohnung, dort habe ich das Hausrecht und das sieht bei mir vor, dass man sich zivilisiert benimt. Ich muss und werde in meinen vier Wänden keine Arschlöcher, Kriminelle oder gewaldbeeite Randallierer dulden. Und so wie man auch im analogen Leben derartige Typen sofort vor die Tür setzt und/oder die Polizei benachrichtigt, so ist es auch im digitalem Netz. Denn ob die realen vier Wände oder das Internet, die Arschlöcher/Trolle sind in beiden Welten die selben.
Entschuldigung, es sieht langsam nach absichtlich kontrollierte ZENSUR mit der Ausrede von Anonymität aber in WAHRHEIT versucht man schon seit Jahren dies zu zensieren. Wenn man beleidigt wird, dann muss man sich ändern oder sich fragen was an sich nicht gemocht wird dass die Leute die Person beleidigen. Die Beleidigung ist zuerst geprägt von Unzufriedenheit der Massen und dies hat immer ein Grund und zwar demokratisch gesehen werden die Massen entscheiden wer akzeptiert wird und wer nicht und zwar als Führer oder Orator der Gesellschaft. Zur Zeit sind viel unwichtigen Personen die nur bezahlt sind die Massen zu stören und plötzlich kommen auch die Antworten. Also die Reaktion der Massen kann man nicht ignorieren oder als rassistische bezeichnen weil als soziale Gerechtigkeit alle Menschen die etwas nicht akzeptieren werden dann laut hier die Analyse als RASSISTEN bezeichnet und auch weiter beschimpft oder ganz isoliert. Man kann die Rechte der Menschen nicht entfernen nur weil ein paar politiker oder Zeitungen dies nicht mögen wenn das Volk sie beleidigt oder kritisieren, also jeder Mensch hat das Recht seine Meinung mit oder ohne BGB zu äußern und die Äußerung kann stören aber muss man sich fragen was störend war und nicht sofort alle als Rassisten zu beschimpfen. Wenn man unsere politiker analisiert dann darf keiner von ihnen an der Macht nicht stehen, die haben und belogen und verraten also die sind laut Gesetzt trotzdem Rassisten und verachtend weil die sich überhaupt nicht um unsere Problemen kümmern. Seit dem diese invasoren nach DE kamen, haben unsere politiker alles vergessen, die Arbeitslosigkeit, die Arbeitsplatzbeschaffung, der Arbeitgeber zeigen auch keine Interesse mehr für Arbeitslosen, Griechenland ist super glücklich, der euro ist stark wie eine tote Maus..., wir sind am ENDE und wir werden STÄNDIG abgelehnt mit solchen Kleinigkeiten ABSICHTLICH damit die HAUPTTHEMEN zu vergesen, ABLEHNUNG VON WAHRHEIT. Das ist die Taktik...
Natürlich ein klares Nein dazu. Man kann sehr lange darüber diskutieren wie man diskutieren sollte aber abdrehen käme ja einer Diktatur gleich. Demokratie haben wir ja ohnedies keine mehr. Aber die Kommis abzudrehen ist ein absoluter NO Go! Danke für deinen Gedankenanstoß. LG Sabine
Danke! Toller Beitrag!
Vielen Dank, ich freue mich über das Feedback!
Interessanter Beitrag , doch habe ich nicht die Möglichkeit mich aus solch negativen Postings zurückzuziehen? Ich für meine Person gebe nur Postings, wo ich mich auch "verstanden" fühle. Damit meine ich nicht, das mir automatisch zugestimmt wird, sondern wo das Niveau hoch genug ist, eine Kritik oder andere Meinung zu akzeptieren und darüber sich auszutauschen.
Liebe Waltraud,
ich glaube sich zurueckzuziehen ist nicht das Allheilmittel fuer alle User. Denn die Menschen, die in Foren mit einseitiger Meinungsbildung verkehren, werden systematisch falsch informiert, was zu der angesprochenen Abgrenzung dieser Gruppe fuehrt. Durch die Abgrenzung sind die Mitglieder der Gruppe nicht mehr offen fuer rationale Argumente, da diese ja von der "Luegenpresse" stammen. Eine soche Isolation ist immer gefaehrlich, da die Gruppe von der Realitaet entkoppelt ist. Wenn diese Gruppe entschlossen genug ist, etwas zu bewegen, koennen Phaenomene, wie der IS entstehen (auch, wenn fuer die Entstehung des IS mehrere faktoren zusammengekommen sind, aber am Ende lauft es darauf hinaus, dass eine isolierte Gruppe wild entschlossen war etwas zu bewegen...).
Werte Waltraud Aouida, werter Matthias, danke für die beiden Kommentare! Ich verstehe gut, dass man manche digitalen Diskussionsräume lieber meidet - oft ist das Klima so rau, dass eine sachliche Debatte auch gar nicht möglich ist. Für den einzelnen User mag also ein Rückzug oft sinnvoll sein, für die Gesellschaft als Ganzes ist das aber riskant. Ich teile Matthias Sorgen, dass ein Rückzug genau den Falschen nützt - jene, die sich über diese Polarisierung freuen. Dazu eine Ergänzung: Manche Gruppen versuchen bewusst, einige öffentliche Diskussionsräume einzunehmen und mit ihrer Meinung zu besetzen. Zum Beispiel sind Antifeministen im Netz sehr aktiv und posten leidenschaftlich (und oft sehr aggressiv) unter Artikeln, in denen es um Frauenrechte und um Feminismus geht, den sie ablehnen. Das raue Diskussionsklima führt dazu, dass sich einige Menschen abwenden und lieber anderswo (oder nur im privaten Raum) weiterdiskutieren. Diese Taktik wird auch als „Silencing“ bezeichnet: Man ist so grob und so rüpelhaft zu anderen, dass diese einfach nicht mehr das Wort ergreifen wollen - und somit sollen auch andere Sichtweisen letztlich ausgeblendet werden. Zum Teil funktioniert diese Strategie. Was also tun? Ich finde es wichtig, dass Webseitenbetreiber und Onlinemedien mehr Verantwortung für den Umgangston auf ihrer Seite übernehmen und auch stärker die Diskussion vor der Entgleisung bewahren. Solche Räume gibt es, zum Beispiel hat „Zeit Online“ ein sehr gut moderiertes Forum. In anderen Worten: Ich finde es wichtig, dass digitale Räume verteidigt und geschaffen werden, in denen Menschen respektvoll miteinander diskutieren. Übrigens verstehe ich Ihre Formulierung mit dem „verstanden werden“ sehr gut: Das Entscheidende ist nicht, dass man überall einer Meinung ist, sondern dass man in der Lage ist, sachlich und fair miteinander zu diskutieren.
Meine persönliche Ansicht~Meinung~Antwort zu dem Text: http://muli.nl/blog/20160121091722.html
Werter Emanuel, danke für die Reaktion. Wir sind uns offensichtlich nicht überall einer Meinung, aber es freut mich nichtsdestotrotz, dass Sie so gründlich auf die einzelnen Überlegungen eingegangen sind. Zu Ihrer Antwort, im Kern entnehme ich daraus drei Einwände: Erstens haben Sie Recht, dass mein Vortrag nur ein sehr eingeschränktes, gut gebildetes Publikum erreichen wird und oftmals jene Menschen, die ganz ähnlich sind wie ich, die in der gleichen Blase sitzen wie ich. Das gibt mir, ehrlich gesagt, oft zu denken auf und die perfekte Antwort auf diese Filterblase habe ich nicht. Ich glaube aber, dass allein im letzten Jahr dieses Thema ungeheuer breitenwirksamer geworden ist. Ich habe im Jahr 2014 ein Buch über Anonymität und Diskussionskultur im Internet veröffentlicht und merke, wie mehr und mehr Menschen über dieses Thema auch reden wollen. Das ist zwar womöglich noch immer eine Minderheit (vielleicht auch nicht), mein Eindruck ist jedenfalls, das Bewusstsein wächst. Zweitens: Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie die Gefahr, dass die Debatte hierzu erst recht polarisierend wird (da kämpfen dann quasi die vermeintlich „Guten“ gegen die vermeintlich „Bösen“). Differenzierung ist wichtig, da stimme ich Ihnen zu. Ich warne nur vor der Gefahr, eine Debatte dann als „differenziert“ zu verstehen, wenn sie auch untergriffige oder gar verletzende Wortmeldungen enthält, oder wenn kein Unterschied zwischen belegbaren Fakten und wilden Gerüchten gemacht wird. Nun könnte man natürlich einwenden: Wer entscheidet denn, was ein Gerücht und was ein Faktum ist, was eine zulässige Aussage und was eine Beleidigung? In manchen Fällen ist das tatsächlich nicht leicht zu erkennen. Manchmal aber doch - und dann sollte das auch benannt werden. In diesen Fällen finde ich es in Ordnung, dass wir aggressive oder faktisch falsche Wortmeldungen nicht schützen oder gleichrangig behandeln wie die Wortmeldungen jener User, die sachlicher und fairer diskutieren (sachlich diskutieren bedeutet nicht, dass man einer Meinung sein muss, aber dass einen gewissen Grundrespekt - auch gegenüber Fakten - wahrt). Drittens, zum Thema „Filtern“ möchte ich noch auf diese exzellente Wortmeldung von Armin Wolf hinweisen: https://www.facebook.com/arminwolf.journalist/posts/1161742677170933 Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie meine Antworten nicht zufriedenstellen oder gar umstimmen wird. Ich habe jedenfalls Ihren Beitrag mit Interesse gelesen.
"Nun ist die Wikipedia 15 Jahre alt geworden, ich las neulich eine interessante Zahl dazu: Eine interne Umfrage aus dem Jahr 2011 fand heraus, dass nur einer von zehn Helfern der Wikipedia eine Frau ist. Nur jeder zehnte Wikipedianer ist eine Frau. Erst vor wenigen Wochen brächte der Atlantic einen interessanten Artikel über den Umgang mit Frauen auf Wikipedia. Die Autorin schrieb über das Verhalten mancher Userinnen:
„Um zu verhindern, dass sie Ziel von Belästigungen werden, nutzen manche Wikipedianerinnen geschlechtsneutrale Pseudonyme und vermeiden es, bei ihrem Usernamen irgendeine persönliche Information anzuführen.“
Das ist doch erschütternd, dass Frauen verheimlichen, dass sie eine Frau sind – damit ihnen gegenüber niemand unangenehm wird."
Das passiert, wenn man sich nicht informiert, nicht hinter de Sachen schaut, einfach nur ein paar Sachen ungefiltert abtippt. Dann steht das da und alle glauben es so wie es da steht. Ich könnte jetzt was dazu sagen - aber es hat ja eh keinen Sinn. Wird ja dennoch ignoriert.
Sehr geehrter Markus Cyron, wenn Sie auf einer sachlichen Ebene diskutieren und konkrete Beispiele bringen, wo ich angeblich "nicht informiert" bin oder "ein paar Sachen ungefiltert abtippe", dann gehe ich auch noch gerne darauf ein.
Ich äußere mich mich mal an dieser Stelle, weil ich genau auf das Wikipedia-Thema eingehen will. Gleich vorneweg: Der Umgangton in der Wikipedia ist an einigen Stellen sehr aggressiv, und natürlich gibt es auch immer wieder gezielte Affronts gegen weibliche Benutzer. Das ist äußerst unschön, da bin ich Ihrer Meinung.
Liebe Frau Brodnig, leider sind Sie dann aber in eine Falle getappt, die Sie oben selbst treffend beschrieben haben. Diejenigen Stimmen, die am lautesten sind und am meisten an diversen Stellen kommentieren, werden am ehesten wahrgenommen, das gilt eben auch für die weit verbreiteten Aussagen über die "frauenfeindliche" Wikipedia.
Ich gehöre zu den Frauen, die sich als "Benutzer" eingetragen haben - weil es nämlich für meine Mitarbeit zunächst unwichtig ist, ob ich männlich, weiblich oder sonstigen Geschlechts bin. Wer genaueres über mich wissen möchte, kann mit einem Klick feststellen, dass ich eine Frau bin. Ich habe auch einen geschlechtsneutralen Benutzernamen - nicht weil ich Angst habe erkannt zu werden, sondern weil mir zu dem Zeitpunkt meiner Anmeldung nichts Originelles eingefallen ist, ich aber anonym bleiben wollte.
Wie gehe ich nun mit geschlechtsspezifischen oder sonstigen Angriffen um? Dagegenhalten, nicht abschrecken lassen, sachlich bleiben, im schlimmsten Falle ignorieren oder kontern, aber nicht jammend durch ganze Internet ziehen, wie böse die Frauen doch wieder behandelt worden sind.
Ich fand den Vortrag ebenfalls sehr interessant und freue mich, dass es den hier jetzt auch schriftlich gibt.
Gilt auch als manueller, absichtlich unaufdringlicher Trackback auf meinen Blogeintrag vom heutigen Tag. :) Wenn du möchtest, kannst du den direkten Link ja selbst hinzufügen. Liebe Grüße!
Ich möchte Alnilam hier zustimmen - und dazu sagen: Es gibt übrigens auch männliche Autoren, die sich explizit für einen weiblichen Nick entschieden haben und es gibt weibliche Autorinnen, die gerne austeilen. Wenn man das Thema Frauenfeindlichkeit angehen möchte, sollte man über ausreichend Hintergrundinformationen verfügen. Damit meine ich jetzt nicht die oben beanstandete "Abtipperei" oder speziell Ihren Artikel. Ich meine damit, dass das "System Wikipedia" so komplex ist, dass man zunächst einen Einblick braucht, um auch beurteilen zu können, wann ein Angriff gegen jemanden geht, weil er eine Frau ist - oder wann das praktisch schon zur Wikipedia "same procedure as every day" (unabhängig vom Geschlecht) gehört. Erst dann wird nämlich auch das Thema Frauenfeindlichkeit ernst genommen (und das beziehe ich jetzt nicht ausschließlich auf die Wikipedia, es fällt mir fast tagtäglich auf). Liebe Grüße von einer Autorin der WP