“Ich bin kein Draufgänger“

Karim El-Gawhary erklärt den Österreichern die arabischen Revolutionen. Ein Gespräch über Kriegsjournalismus, das Leben von Korrespondenten und Bilder, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt

Karim El-Gawhary ist unser Mann in Ägypten, für den ORF berichtet er von der arabischen Revolution, seit fast 20 Jahren lebt er in Kairo. Ihn selbst zieht es aber gar nicht an die Front, lieber berichtet der Journalist von ganz normalen Menschen und wie sie trotz Krieg leben. In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Arbeit als Korrespondent zunehmend schwierig geworden, erzählt er im eineinhalbstündigen Interview.

Falter: Herr El-Gawhary, Sie berichten schon fast 20 Jahre aus dem Nahen Osten. Ist die Arbeit als Korrespondent schwieriger geworden?

Karim El-Gawhary: Sie hat sich stark verändert. Früher begleitete die Auslandsberichterstattung einen Prozess. Man hat regelmäßig über ein Land geschrieben, das hat sich sehr gewandelt: Jetzt gehen wir Journalisten immer dorthin, wo es gerade brennt. Wir sind Feuerwehrleute geworden. Die kontinuierliche Berichterstattung ging verloren. Deswegen scheint es oft so, als würden Konflikte vom Himmel fallen. Zum Beispiel der Libanon-Krieg 2006. Wenn ich zwei Wochen vorher eine Hisbollah-Geschichte vorgeschlagen hätte, hätte man mich angegähnt. Dann bricht der Krieg aus, und man hört morgens, mittags und abends vom Libanon.

Sie dürfen also immer erst dann berichten, wenn es schon brennt?

El-Gawhary: Wir Journalisten laufen den großen Events hinterher, aber es werden keine Prozesse mehr abgebildet. Das sieht man auch an den Zeitungen: Das Ausland bekommt immer weniger Seiten, es rückt immer weiter nach hinten im Blatt. Und jetzt gibt es sogar die Diskussion, ob der Auslandskorrespondent nicht gar ein Auslaufmodell ist.

Sind Sie ein Auslaufmodell?

El-Gawhary: Das ist die Ironie der Geschichte: Die amerikanischen Medien haben letztes Jahr ganz viele Büros im Nahen Osten geschlossen. Jetzt beißen sich die in den Hintern. Unabhängig davon führen wir aber diese Diskussion: Wofür brauchen wir noch Auslandskorrespondenten? Reichen nicht auch ein paar YouTube-Videos und ein paar Berichte von Leuten vor Ort? Erschwerend kommt hinzu, dass es in der Berichterstattung einen Einheitsbrei gibt. Jeder schreibt von jedem ab oder verwendet die Agentur. Dann schauen alle Artikel gleich aus – egal, welche Zeitung Sie lesen. Das Problem ist nur, dass die Zeit für eigene Recherchen fehlt. Fernsehen zum Beispiel ist der absolute Wahnsinn der Echtzeit-Berichterstattung.

Wie meinen Sie das?

El-Gawhary: Im Fernsehen ist es wichtiger, dass ich zehn Minuten nach einem Ereignis vor der Kamera stehe, als dass ich die Zeit habe, rauszugehen und mir die Situation anzusehen. Fernsehen suggeriert dieses Vor-Ort-Sein. Man hat immer das Gefühl, die Person vor Ort muss alles wissen. Ich erinnere mich an eine absurde Situation: Ich stehe im Norden von Bagdad im Supermarkt und kaufe gerade mein Abendessen. Da ruft die deutsche Radiostation an und sagt: “Gerade eben ist im Süden von Bagdad eine Bombe explodiert. Wie ist die Atmosphäre? Wir gehen gleich auf Sendung.“ Und ich stehe im Supermarkt und denke mir: Bitte, was ist jetzt los?

Schadet diese Echtzeit dem Journalismus?

El-Gawhary: Ja. Der Journalismus brauchte wieder mehr Tiefe, mehr Hintergrund, nicht dieses Schnell-schnell nach dem Motto: “Erklär mir den Nahen Osten in 45 Sekunden.“ Ich glaube, Leuten ist das gar nicht so wichtig, wichtiger wäre ihnen, dass sie Hintergründe erfahren und das Geschehen einordnen können.

Gibt es Geschichten, die in dieser Hast untergehen?

El-Gawhary: Etliche Geschichten gehen unter. Zum Beispiel wollte ich vor der Revolution über die Beduinen in Nord-Sinai berichten. In dieser Region funktionieren die alten Stammesstrukturen nicht mehr, gleichzeitig existiert kein Staat. Daraufhin haben sich militante islamistische Kader gebildet. Man wusste, das wird irgendwann ein riesiges Problem, aber im Moment ist es noch kein Thema, und es wird nicht vorausschauend berichtet. Man versucht nicht einmal, vorausschauend zu berichten.

Sie selbst leben in Kairo. In den letzten Wochen hat man Ihnen angemerkt, wie Sie mitfieberten. Als Mubarak zurücktrat, sah man Ihnen die Freude regelrecht an. Darf man sich als Journalist mitfreuen?

El-Gawhary: Es gibt diese Vorstellung, dass Journalismus immer objektiv sein muss. Demnach hätte ich bei der ägyptischen Revolution einen gehörigen Abstand halten und sagen müssen: Das Regime behauptet dieses, die Revolutionäre behaupten jenes. Aber in manchen Situationen funktioniert das nicht. Beim Umsturz in Osteuropa haben die Medien auch nicht total objektiv berichtet.

Sie meinen: Als die Mauer fiel, haben die westdeutschen Medien gejubelt und nicht extra noch den Standpunkt der DDR eingeholt.

El-Gawhary: Ja, es gibt Situationen, wo der objektive Journalismus hinfällig wird. Man muss nur aufpassen, dass man trotzdem den kritischen Blick bewahrt. Ich kann nicht sagen: Die Revolution ist toll, und alles, was danach kommt, ist auch toll. Jetzt ist diese Revolution vorbei und die gesellschaftlichen Widersprüche kommen wieder zum Vorschein. In den letzten Tagen hatten wir Probleme zwischen Kopten und Muslimen, das muss ich mir natürlich genau ansehen. Sonst wäre ich ja kein Journalist. Eines möchte ich aber anmerken. Es ist sicher ein Vorteil, wenn man halb ägyptisch, halb deutsch ist wie ich. Ich kann mich in beide Seiten einfühlen, habe aber vor beidem einen gewissen Abstand.

Fühlen Sie sich in keiner Kultur richtig zu Hause?

El-Gawhary: Nein, ich habe kein richtiges Zuhause. In Deutschland mache ich inzwischen ethnologische Studien am Bahnsteig. Die Leute beschweren sich, dass sich der Zug um fünf Minuten verspätet, und ich denke mir: In diesem komischen Land habe ich 25 Jahre lang gelebt. Gleichzeitig machen die Ägypter Dinge, die mich verwundern. Als Journalist finde ich das aber gar nicht schlecht. Mir geht es in meiner Arbeit eher darum, jenen eine Stimme zu geben, die keine haben. Oft will ich gar nicht über Kriege oder Krisen berichten, sondern über Menschen und Familien, die diese Kriege durchleben und managen.

Haben Sie da ein Beispiel?

El-Gawhary: Zuletzt hat mich eine Geschichte aus Libyen beeindruckt. Sie handelte von einem Mann, der 48 Jahre alt war – so alt wie ich. Er hatte ein gutes Leben, war bei einer Ölfirma angestellt, hatte zwei Töchter, die eine gute Ausbildung genossen. Allerdings lebte er in der Nähe einer Kaserne in Bengasi: Tagelang versuchten Jugendliche die Kaserne zu stürmen und wurden von den Gaddafi-Leuten abgeschossen. Eines Tages hat er die Verletzten abtransportiert und kam mit blutigen Händen heim. Seine Familie hatte keine Ahnung, welche Konsequenz er daraus zog. Er packte sein Auto voll mit Kochgasflaschen, kaufte Dynamit und fuhr mit dem Auto in das Tor der Kaserne. Er hat sich in die Luft gesprengt, damit das Ganze aufhört. Damit die Jugendlichen die Kaserne stürmen können. Dieser Mann war eben kein Fanatiker, er war ein ganz normaler Familienvater, ein Mensch wie du und ich. Nur irgendwann hat er diese Situation nicht mehr ausgehalten und die Konsequenz gezogen. Wenn man das rüberbringt, wenn die Leute verstehen, warum jemand so etwas macht, dann ist es eine gute Geschichte.

Sie haben auch ein Buch mit dem Titel “Alltag auf Arabisch“ geschrieben. Sehen Sie sich als kultureller Vermittler?

El-Gawhary: Ja, ich verstehe mich nicht nur als Journalist, sondern auch als kultureller Übersetzer. Ich meine damit die Übersetzung, wer warum wie handelt, inwiefern die Menschen in Ägypten und Österreich dieselben Hoffnungen und Träume haben. Auch die Ägypter wünschen sich eine gute Ausbildung für ihre Kinder und ein sicheres Leben. Mir geht es darum, nicht nur die Exotik, sondern auch die Ähnlichkeit zu vermitteln.

Wie ist es bei Ihnen selbst: Sie haben Islamwissenschaften studiert, sind Sie gläubiger Moslem?

El-Gawhary: Über meine Religionszugehörigkeit will ich mich nicht äußern. Ich möchte nicht in irgendwelche Schubladen gesteckt werden. Wenn ich sage, ich bin gläubiger Muslim, heißt es: Aha! Und wenn ich sage, ich bin total unreligiös, heißt es: Wieso? Das spielt in meiner Arbeit auch keine Rolle.

Aber es wäre schon interessant, über Ihr Weltbild etwas zu erfahren.

El-Gawhary: Wenn man klug ist, erkennt man das an meinen Geschichten. Ich betrachte mich als sehr weltoffenen Menschen, aber ich weigere mich, in eine Schublade gesteckt zu werden. Manchmal rufen Talkshows an und sagen: Wir suchen einen Araber für unsere Show. Diese Rolle will ich nicht spielen, ich will nicht der Alibi-Araber oder Alibi-Muslim oder Alibi-Christ sein.

Über Ihr Privatleben ist zumindest bekannt, dass Ihre Frau amerikanische Staatsbürgerin ist und Sie drei Kinder haben. Wie international ist Ihre Familie?

El-Gawhary: Sehr international. Meine Kinder wachsen dreisprachig auf und haben mehr als einen Pass. Ich habe meine Vereinten Nationen zu Hause. Das beantwortet auch Ihre Frage von zuvor.

Sie selbst wuchsen in Deutschland auf. Wie sind Sie denn Korrespondent in Kairo geworden?

El-Gawhary: Meine Arbeit hat gleich mit einem Krieg angefangen, mit dem Golfkrieg 1991. Eigentlich wollte ich in Kairo meine Diplomarbeit über islamisches Bankenwesen schreiben. Dann brach der Golfkrieg aus, und weder meine Gesprächspartner noch ich haben sich für islamisches Bankenwesen interessiert. Alles drehte sich um den Krieg im Irak. Dann habe ich bei der taz angerufen und gefragt: “Braucht ihr nicht jemanden, der ab und zu etwas schreibt?“ So fing ich an, Artikel zu liefern. Ich hatte natürlich von nichts eine Ahnung, bin losgezogen für 39 Pfennig die Zeile.

Jetzt hat der Standard geschrieben: “Die Tage des Aufstands in Ägypten sind auch die Tage des Karim El-Gawhary.“ Sind die letzten Wochen der Höhepunkt Ihrer bisherigen Karriere?

El-Gawhary: Ja, ich habe fast das Gefühl, ich habe die letzten 20 Jahre auf diesen Moment hingearbeitet. Mein Wissen und meine Erfahrung sind in diesem Punkt kulminiert. Ich könnte auch nicht die gleiche Arbeit leisten, wenn ich erst zwei oder drei Jahre hier wäre. Jetzt ist natürlich der Höhepunkt meiner Karriere.

Auf Facebook sieht man auch, dass Ihnen täglich dutzende Menschen gratulieren. Wie viele Rückmeldungen bekommen Sie eigentlich?

El-Gawhary: Ich bekomme E-Mails, Facebook-Postings, Meldungen auf Twitter. Darunter viel Lob, aber auch Kritik. Das Lob ist ein bisschen das Benzin, das mich antreibt. Die Kritik andererseits ist auch eine Hilfe, niemand macht immer alles richtig. Ich glaube, langfristig muss man als Journalist die neuen Medien nutzen und sich darin einen Markennamen machen. Nicht als ORF-Korrespondent oder als taz-Korrespondent, sondern als Person: Karim El-Gawhary steht für eine bestimmte Art von Journalismus. Langfristig werden die Medien unwichtiger, sie sind nur der Mittler zwischen demjenigen, der Inhalte produziert, und dem Konsumenten dieser Inhalte.

Könnte so die Zukunft für die Korrespondenten ausschauen, dass sie stärker zur Marke werden und sich so ihre Existenz sichern?

El-Gawhary: Existenzsicherung ist im Moment eine schwieriges Thema. Dieser Hype um die arabische Welt kommt in einer Zeit der absoluten Sparmaßnahmen. Im letzten Jahr wurde massiv eingespart, ich selbst habe eine Zeitungspauschale verloren, und eine weitere ist mir radikal um zwei Drittel zusammengekürzt worden.

Welche Zeitungen waren das?

El-Gawhary: Der eine Fall ist bekannt. Die taz hat meine Pauschale um zwei Drittel gekürzt. Ich weiß nicht, wie die Situation für Korrespondenten langfristig weitergeht. Aber irgendwann werden die Einsparungen sicher fortgesetzt. Nur womöglich verschieben sich gerade die regionalen Gewichte: Jetzt werden wieder mehr Büros in der arabischen Welt aufgemacht, dafür werden sie anderswo geschlossen. Der ORF hat vor acht oder neun Jahren sein Büro in Kairo eröffnet, im Nachhinein hat sich das als guter Schachzug erwiesen.

Was ist denn Ihre Hoffnung für den arabischen Raum?

El-Gawhary: Dass wir hier wirklich demokratische Systeme bekommen und die Herrschenden rechenschaftspflichtig werden. Schauen Sie sich Tunesien und Ägypten an: Die Tunesier haben ihre Geheimpolizei abgeschafft, die Ägypter greifen gerade die Büros der Staatssicherheit an. Die Menschen gehen gegen die arabische Stasi vor und sagen: “Wie wollen diese allmächtigen Sicherheitsapparate nicht mehr.“ Das ist eine gute Entwicklung, aber nur weil Mubarak weg ist, bricht hier nicht morgen das Paradies aus.

Haben Sie in den letzten Wochen Ihre schusssichere Weste tragen müssen?

El-Gawhary: In Libyen hatte ich sie dabei, ich habe sie aber nicht getragen. Ich hatte sie schon oft an, im Libanon-Krieg, im Gaza-Krieg oder im Irak. Aber ich bin überhaupt nicht gern Kriegsreporter, ich mag diesen Wanderzirkus nicht. Lieber berichte ich von den Geschichten, die in Bengasi auf der Straße liegen, als dass ich noch einmal 100 Kilometer weiter zur Front fahre, wo ich nur sagen kann: Dieses oder jenes ist gerade bombardiert worden.

Trotzdem wird Ihr Job manchmal gefährlich sein.

El-Gawhary: Natürlich gibt’s haarige Situationen. Als ich in Tunesien ankam, dachte ich mir: Alles wunderbar. Wir fuhren in die Nähe des Hotels, luden den Kofferraum aus, der Kameramann, Tontechniker und ich nahmen unsere Taschen. Plötzlich fängt eine Mordsschießerei an. Eine Viertelstunde lagen wir mit dem Gepäck über dem Kopf hinter einem Auto, und ich habe mir gedacht: Was mache ich hier eigentlich? Ich bin generell kein Draufgänger, sondern eher vorsichtig. Ich bin auch für andere verantwortlich. Am schlimmsten wäre es, wenn meinem Kameramann etwas passiert – und ich bin derjenige, der ihn dorthin geschickt hat.

Erleben Sie manchmal auch den Horror des Krieges?

El-Gawhary: Es gibt Situationen, da wird dir richtig schlecht. Ich war letzte Woche in einem Munitionsdepot in Libyen. Es wurde in der Nacht bombardiert, die Aufständischen verloren irrsinnig viele Waffen, und es gab mindestens 20 tote Jugendliche. Wir kommen in dieses Camp rein, ich stehe mitten in den Trümmern, und ein Typ kommt auf mich zugelaufen mit einem Hirn in der Hand. Er hält ein menschliches Gehirn in die Kamera und sagt: “Das müsst ihr filmen! Ihr müsst zeigen, was uns hier passiert ist.“ Dieses Bild habe ich jetzt in meinem Kopf drin, aber das kann man in Österreich niemals senden. Es gibt auch Grenzen bezüglich dessen, was man den Leuten zeigen kann.

Möchten Sie das Ihr ganzes Leben machen?

El-Gawhary: Hirne anschauen?

Nein, Korrespondent sein.

El-Gawhary: Wenn es so weitergeht, wenn der Job so spannend bleibt: ja, bis zur Rente, gar kein Problem. In der aktuellen Situation gibt es keinen besseren Job als den, den ich habe. Man hat das Gefühl, man ist dort, wo gerade Geschichte geschrieben wird. Für einen Journalisten gibt es nichts Schöneres.

 

Zur Person

Karim El-Gawhary, 48, ist der Sohn eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter. Er wurde in München geboren, studierte Islamwissenschaften und lebt seit Anfang der 90er-Jahre in Kairo. Seit dem Golfkrieg 1991 ist er journalistisch tätig, heute arbeitet er für rund zehn Printmedien, darunter die Tageszeitungen Presse und taz. Seit 2004 leitet er auch das ORF-Büro in Kairo. El-Gawhary ist mit einer amerikanischen Staatsbürgerin verheiratet und hat drei Kinder

 

Dieses Interview ist im Falter 11/11 erschienen. Fotos: ORF Büro / Kairo

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